Tolle Zahlen, die die Bauverbände NRW Ende Mai präsentierten: Der Auftragseingang nahm im ersten Quartal 2022 um 19,1 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal zu und die Umsätze sogar um 20,8 Prozent – im Schnitt der drei Zweige Wohnungsbau, Wirtschaftsbau und öffentlicher Bau. Allerdings: Nicht nur die Zeitung von gestern ist schon überholt; dasselbe kann auch Statistiken passieren. Denn die Baukonjunktur, die Anfang des Jahres nach schwierigen Corona-Jahren Fahrt aufnahm, sieht sich seit dem 24. Februar 2022 einem ganzen Bündel von Problemen gegenüber. Zum größeren Teil hängen diese mit dem Krieg in der Ukraine zusammen, der an jenem Tag begann. Mehrere Verbände befürchten einen Einbruch zum Beispiel im Bauteilbereich Wohnungsbau.
Personalprobleme
„Wir haben in den verschiedenen Gewerken eine Auslastung von gefühlt 120 Prozent, aber wir werden von drei Seiten umzingelt“, sagt Heinz Rittmann, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Bauverbände NRW. „Die steigenden Zinsen: Auftraggebern, die mit niedrigen Zinsen kalkuliert haben, fliegt ihre Kalkulation um die Ohren. das betrifft besonders – aber nicht nur – private Auftraggeber. Hinzu kommen die steigenden Materialpreise. Das dritte Problem: Es fehlen uns die Leute.“ Viele nicht spezialisierte Facharbeiter wurden aus Osteuropa geholt, doch dieser Markt erscheint momentan erschöpft. Die Sozialkassen Bau (Soka) haben berechnet, dass in den nächsten zehn Jahren 150.000 Leute im Sektor in Rente gehen. Zwischen 15 und 25 Prozent der Baubetriebe geben an, dass der Mangel an geeigneten Mitarbeitern die Produktion behindere, fand das Ifo-Institut heraus. Das schwierige Personalthema spiegelt sich auch in der zitierten, ansonsten eher rosigen Statistik. Gab es im ersten Quartal 2021 noch 11,5 Prozent mehr Auszubildende als im Vorjahresquartal, so waren es im ersten Quartal dieses Jahres sogar 1,5 Prozent weniger als 2021. Schwund tritt während der Ausbildung selbst auf und auch danach. Von den 14.000 Azubis im ersten Lehrjahr hat sechs Jahre später rund die Hälfte die bauausführenden Betriebe verlassen, hat die Soka ermittelt: Je kleiner und je ländlicher der Betrieb ist, desto schwieriger ist die Personalfindung. Etwa 15 Prozent der ausgebildeten Facharbeiter gehen in den Baustoffhandel. Viele würden auch von der Industrie abgeworben, sagt Stuckateurmeister und Sachverständiger Jörg Ottemeier, auch Vorsitzender des Landesverbands Ausbau und Fassade. Dreißig Jahre lang habe er immer ausgebildet. Das allerdings werde immer schwieriger: „Aktuell bilden wir einen Studienabbrecher aus, der von den Berufsschulfächern befreit wurde, außerdem einen Langzeitpraktikanten und eine Bewerberin, die eigentlich Bühnenmalerin werden wollte. Ich konnte sie von der Ausbildung zur Stuckateurin überzeugen mit dem Argument: ‚Was nützt die Bühnenmalerei bei Corona?‘“ Zahlreiche Versuche haben die Baugewerke mit der Personalgewinnung gestartet. Mit Flüchtlingen hat man bei den Bauerbänden NRW generell die Erfahrung gemacht, dass sie motiviert und engagiert sind. Die Deutschkenntnisse bilden allerdings regelmäßig ein Problem. Inzwischen qualifizieren die Bauverbände NRW in mehreren Projekten junge Fachkräfte in Jordanien und suchen in Äthiopien deutschsprechende Kandidaten für eine Ausbildung.
Materialpreissteigerungen
Die schon in der Ukrainekrise seit Kriegsbeginn gestiegenen Materialpreise stellen ein enormes Problem dar. „Seriös gibt keiner mehr ein Angebot mit festen Preisen ab“, ist Heinz Rittmanns Erfahrung. Im Stuckateurhandwerk ist die Qualität der Arbeit vielfach relevanter als der Rohstoffpreis. Insofern haben bei Stuckateurmeister Ottemeier die steigenden Materialpreise noch nicht so katastrophale Folgen wie in materialintensiveren Gewerken. „Die Baustellen in diesem Jahr haben wir bisher allesamt erfüllt“, so Ottemeier. „Seit April treten wir eher in Verhandlungen mit Auftraggebern ein, als einen Nachlass zu geben.“
Lieferengpässe
Hinzu kommen Lieferengpässe. Diese führen zu Verzögerungen, die sich potenzieren können. „Wenn noch keine Fenster und Türen eingebaut sind, wird keiner die Elektroinstallation machen – aus Angst vor Diebstählen auf der Baustelle“, meint Bauverbände-Vizechef Rittmann.
Jörg Ottemeier kommt, als wir ihn sprechen, gerade von einer Baustelle mit mangelhaft ausgeführten Stuckarbeiten. „Die Auftraggeberin wollte sparen. Als Sachverständiger hatte ich im vergangenen Jahr Steigerungen im zweistelligen Bereich aufgrund fehlerhafter, nicht von Fachfirmen ausgeführter Arbeiten.“ Die Wiedereinführung der Meisterpflicht für Fliesen-, Estrich- und Parkettleger findet darum seine volle Zustimmung; Heinz Rittmann ist derselben Meinung und unterstützt das Ziel der Trockenbauer, auch in diesem Gewerk die Meisterpflicht wiedereinzuführen. „Wir haben im weltweiten Vergleich eine gute Bauqualität. Wenn wir diesen Qualitätsstandard halten wollen, brauchen wir gute Leute.“ Dies trifft auch auf die Aufgaben der Zukunft zu, denn diese werden – Stichwort Digitalisierung, Einsatz von Drohnen etwa zum Aufmaß, energetische Sanierung – eher noch anspruchsvoller werden als bisher schon.
Fragen an Prof. Hans-Jörg
Hennecke, Hauptgeschäftsführer Handwerk NRW
RM: Wie ist die Lage in den bauaffinen Handwerksberufen?
Hans-Jörg Hennecke: Die Betriebe sehen sich aktuell einer außerordentlich hohen Nachfrage gegenüber. Material- und Lieferengpässe sowie drastische Preissteigerungen und Fachkräftemangel erschweren es, die Aufträge abzuarbeiten. Es gibt aber große Risiken für die Baukonjunktur. Die Baukosteninflation setzt viele Bauherren unter Druck und lässt Finanzierungskonzepte scheitern. Es häufen sich die Hinweise, dass der Auftragseingang in den kommenden Monaten stark zurückgeht.
RM: Wie wirkt sich all das auf die Baugewerke aus?
Hennecke: Im Durchschnitt drei von vier Betrieben des Bauhauptgewerbes haben im Rahmen der im März durchgeführten Frühjahrsumfragen in den sieben nordrhein-westfälischen Handwerkskammern steigende Preise als Problem angegeben, bei den Dachdeckern waren es sogar 88 Prozent. Bei einer bundesweiten Umfrage des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) gut einen Monat später bestätigten 51 Prozent der antwortenden Unternehmen des Baugewerbes ausdrücklich, dass sich Russlands Krieg in der Ukraine in Form sinkender Umsätze auswirke.
RM: Bei Bauprojekten ist die enge Verzahnung wichtig. Wie stark verzögern sich schon jetzt Bauprojekte durch Lieferkettenproblematik und Materialmangel?
Hennecke: Lieferkettenstörungen haben in den letzten Monaten klar zugenommen. Besonders häufig sind Lieferengpässe bei Metallen und Elektronikkomponenten. Das Hauptproblem für die bauleistenden Firmen liegt allerdings speziell in den stark gestiegenen Beschaffungspreisen, weil Aufträge aus diesem Grund vermehrt unwirtschaftlich werden. Eine besonders hohe Preisdynamik betrifft Metalle (67 Prozent), Kunststoffe (41 Prozent) und Energieträger (38 Prozent). Das Bauhandwerk zeigt sich ausweislich der ZDH-Umfrage als die von diesem Zusammenhang am stärksten betroffene Branchengruppe des Wirtschaftssektors Handwerk; 82 Prozent der vom ZDH im Mai befragten Unternehmen des Bauhauptgewerbes berichten von unrentabel gewordenen Projektkalkulationen, während Auftragsverschiebungen oder -stornierungen stärker bei den Ausbauhandwerken (83 Prozent) auftreten.
RM:Wie groß ist die Gefahr, dass durch die Problemfülle Bauprojekte abgesagt werden?
Hennecke: Die Gefahr ist real und wird von den Befragten der ZDH-Umfrage auch bestätigt: 46 Prozent der Bauunternehmen berichten danach über Auftragsstornierungen, weil Auftraggeber nicht bereit sind, höhere Preisansetzungen infolge der deutlich gestiegenen Beschaffungs- und Energiepreise zu akzeptieren. Wir verfügen allerdings über keine Daten, die eine belastbare quantitative Aussage über die Anzahl der stornierten Projekte zuließen.
RM: Welche Gruppen von Projekten/Auftraggebern sind besonders betroffen?
Hennecke: Man muss darauf gefasst sein, dass alle Teilmärkte betroffen sind: private Bauherren, deren Hausfinanzierung nicht mehr trägt, gewerblicher Wohnungsbau, der nicht beliebig hohe Mieten und Verkaufspreise erzielen kann, aber auch der öffentliche Bau, weil die Etats für Infrastrukturinvestitionen endlich sind und höhere Kosten zu einer zeitlichen Streckung von Vergaben führen müssen.
RM: Droht Baugewerken nach dem enormen Personalmangel nun sogar Kurzarbeit?
Hennecke: Die Anmeldung von Kurzarbeit aufgrund fehlenden Materials bestätigten in der ZDH-Umfrage zehn Prozent der Baubetriebe.
RM: Wie reagieren Handwerksbetriebe auf die schwierige Situation?
Hennecke: Preisgleitklauseln sind aus Sicht des Handwerks für alle Aufträge wichtig. Wo sie nicht durchsetzbar sind, werden Angebotspreise durch entsprechende Sicherheitsaufschläge nur höher oder Angebote werden gar nicht erst abgegeben.
RM: Inwieweit sind eigentlich Preisgleitklauseln überhaupt zulässig?
Hennecke: Wurde der Vertrag bereits geschlossen und befindet sich aktuell in der Durchführungsphase, sind Handwerksbetriebe grundsätzlich an die vereinbarten Preise gebunden. Um eine Preisanpassung durchzusetzen, muss in dem Vertrag eine wirksame Preisgleitklausel enthalten sein. Fehlt es daran, können Betriebe versuchen, mit dem Auftraggeber eine einvernehmliche Änderungsvereinbarung herbeizuführen. Wurde in den Vertrag zwar keine Preisgleitklausel, gleichwohl aber die VOB/B wirksam einbezogen, kann der Auftragnehmer unter Umständen von seinem Sonderkündigungsrecht nach § 6 Abs. 7 VOB/B Gebrauch machen. Hierfür muss es jedoch zu einer Unterbrechung oder Verzögerung der Leistungen von mindestens drei Monaten gekommen sein.
RM: Mit welchen Wachstumszahlen im bauaffinen Handwerk rechnen Sie für 2022?
Hennecke: Die Auswirkungen des Ukrainekrieges und die multikausalen, verschärften globalen Lieferkettenverwerfungen lassen nicht zu, die (überwiegend positiven) Erwartungen der Bauhandwerker an die Umsatzentwicklung aus der Märzumfrage der NRW-Handwerkskammern noch als aktuell gültigen Stand anzusehen. Ob und in welcher Höhe sich in diesem Jahr in der Baubranche noch ein Umsatzplus realisieren lässt, bleibt abzuwarten.
RM: Welchen Tipp geben Sie den Baugewerken in dieser komplexen Situation?
Hennecke: Generell raten die Betriebsberatungen auch der Kammern dazu, Preisgleitklauseln zu verabreden, Materialbezugsquellen zu diversifizieren und Lager anzulegen bzw. aufzustocken mit defizitären Standardmaterialien und Vorprodukten, so wie sich Bezugsmengen zu „halbwegs reellen“ Gestehungspreisen eben am Markt beschaffen lassen. Ein genereller Rat ist, weiter in Prozessdigitalisierung und -automatisierung zu investieren.Claas Syrt Möller
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