Wirtschaftlicher Niedergang, Börsencrash, Auseinanderbrechen der EU – der Brexit verbreitet Panik, polarisiert und lässt die Gerüchteküche hochkochen. Deutsche Medien suhlen sich in antibritischer Propaganda oder werfen gleichgeschaltet mit dem Torygraph, besser als „The Daily Telegraph“ bekannt, den EU-Abtrünnigen falsche Versprechen vor. EU-Bürokraten, Mandatsträger in Europa und allen voran die vier großen Parteien im EU-Parlament verlangen den schnellstmöglichen Austritt der Briten. Schon wittern die Verlierer des Referendums ihre Chance, verlangen eine neue Abstimmung oder drohen, wie im Fall von Schottland, mit einem Veto.
Dabei lohnt es sich, an dieser Stelle erst einmal einen kühlen Kopf zu behalten und die Faktenlage wohl abzuwägen; denn in Stein gemeißelt scheint derzeit in Sachen Brexit gar nichts. Ob die britischen Parlamentarier diesem letztlich folgen, ist nicht zu 100 Prozent sicher und die Auflösungserscheinungen der britischen Regierung wie der angekündigte Rücktritt des Premierministers David Cameron verdeutlichen die unsichere Lage.
Business as usual
Ohne also gleich in die Panik der Börsianer zu verfallen, werfen wir einen nüchternen Blick in die Möglichkeiten eines Brexit aus rein wirtschaftlicher Perspektive. Ein Austritt aus der EU ist zwar Neuland, doch er folgt einem Regelwerk. Dabei „sollte man im Hinterkopf behalten, dass es mindestens zwei Jahre dauern wird, bis Großbritannien die EU tatsächlich verlässt, weshalb in der nahen Zukunft erst mal ‚business as usual‘ angesagt ist“, so Tom Rahder, Vice President Marketing des Londoner Währungsspezialisten Ebury.
Auch werden – anders, als es viele Bürokraten und EU-Politiker schwarzmalen – die Unterhändler sicher nach der Möglichkeit suchen, die bestehenden wirtschaftlichen Beziehungen zu Großbritannien auf dem Status quo zu halten. Auf der politischen Bühne kann dies z.B. durch ein mögliches Freihandelsabkommen, aber auch durch bi- oder multilaterale Verträge unterstützt werden, siehe Schweiz oder Norwegen. „Auch wenn das heute kein guter Tag für Europa ist, müssen wir jetzt nach vorne schauen und die Folgen für die Wirtschaft so gering wie möglich halten“, kommentierte Ulrich Kanders, Hauptgeschäftsführer des Essener Unternehmensverbands, den Brexit in einer ersten Stellungnahme.
Kurz- und langfristige
Herausforderungen
Großbritannien ist für die Unternehmen in Nordrhein-Westfalen und somit auch für die Betriebe am Niederrhein, im Revier, in Rhein-Wupper und in Südwestfalen ein sehr wichtiger Handelspartner. 2015 exportierten die nordrhein-westfälischen Unternehmen Waren im Wert von 13,9 Milliarden Euro in das Vereinigte Königreich – ein Zuwachs im Vergleich zum Vorjahr um 14 Prozent. Damit ist Großbritannien der drittwichtigste Exportmarkt Nordrhein-Westfalens. Gleichzeitig rangiert das Vereinigte Königreich auf Rang sechs der wichtigsten Importländer Nordrhein-Westfalens.
„Allein in 2015 verkauften mehr als 200 Unternehmen aus unserer Region Waren im Wert von über 800 Millionen Euro nach Großbritannien, eine Fortsetzung dieser Erfolgsgeschichte ist mit dem Brexit nur schwer vorstellbar“, befürchtet Dr. Gerald Püchel, Hauptgeschäftsführer der IHK zu Essen. Ähnlich äußert sich auch Dr. Benedikt Hüffer, Präsident der IHK Nord Westfalen. Nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU rechnet Dr. Hüffer mit Einbußen beim Auslandsgeschäft für die nord-westfälische Wirtschaft: „Die starke Abwertung des britischen Pfunds verteuert Exporte aus unserem IHK-Bezirk auf die britische Insel erheblich. Zudem werden Geschäfte mit Großbritannien komplizierter und die damit verbundene Export-Bürokratie für die Unternehmen aufwendiger.“
Großbritannien ist wichtig für unsere heimischen Unternehmen und ein Austritt aus der EU hat Folgen für die Wirtschaft, doch diese werden in pragmatischer Vernunft münden und können – wie ein Blick in die Finanzmetropole Frankfurt am Main offenbart – unsere Wirtschaft auch stärken. „Auch wenn der Brexit kommt, wird eine Partnerschaft bleiben“, so Wolfgang Schmitz, Hauptgeschäftsführer des Unternehmerverbands aus Duisburg. „Die Frage wird sein, wie diese in Zukunft aussieht.“
André Sarin | redaktion@regiomanager.de
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