Ob „irre Lage“ oder „Megakatastrophe“: Wer sich in der Wirtschaft umhört, bekommt dramatische Einschätzungen wie diese zu hören. Dabei ist nicht etwa die Corona-Situation gemeint (zumindest nicht nur). Denn zusätzlich zur Pandemie kämpfen die Unternehmen seit vielen Monaten mit einer Knappheit an Rohstoffen und Material, wie es sie in jüngerer Vergangenheit noch nicht gegeben hat. „Die Engpässe treffen die NRW-Wirtschaft in der Breite und werden zu einem Risiko für die Erholung der Konjunktur in Nordrhein-Westfalen.“ So lautet die Bewertung von Dr. Matthias Mainz, Geschäftsführer Wirtschaftspolitik von IHK NRW. Die Hintergründe: „Die globalen Wertschöpfungsketten stehen unter Druck, denn wichtige Logistikketten sind gestört. Nicht in allen Teilen der NRW-Wirtschaft kann die Versorgung mit Rohstoffen und mit wichtigen Vorprodukten und Konsumgütern derzeit sichergestellt werden. Bei Energieträgern und Rohstoffen ist es in den letzten Monaten zu teils erheblichen Preisanstiegen gekommen.“ Umfragen der IHKs in NRW zeigen, dass in der Industrie mehr als 80 Prozent der Befragten im Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise das zentrale Konjunkturrisiko sehen. Neben der Industrie sind vor allem die Logistikunternehmen und das Baugewerbe betroffen. „Sie leiden besonders unter dem schnellen Anstieg der Preise für Transport, Baustoffe oder Energie und den Schwierigkeiten in den globalen Transportketten“, so Mainz. Für die deutschen Unternehmen im Ausland stehen – das zeigt der jüngste „AHK World Business Outlook“ – die steigenden Rohstoffpreise auf der Risikoskala ganz oben. Erst dann kommen wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen wie Steuern, Zölle oder Sanktionen.
Kritik an den Erstausrüstern
Die Herausforderung erweist sich als unliebsam hartnäckig. Von einer raschen Normalisierung geht die Wirtschaft nicht aus. Einer ifo-Umfrage im Herbst zufolge rechnen die Industriefirmen im Durchschnitt damit, dass die Probleme noch acht Monate andauern werden. Die Chemiebranche nennt sogar zehn Monate. Ob Buchhandel (Papier) oder Fahrradläden (Reifen, Zahnkränze, Akkus etc.): Kaum ein Bereich ist unberührt. Massiv betroffen ist die Automobilindustrie – Stichwort Chipmangel. Produktionsstopps sorgen für Unruhe bei den Zulieferern. „Der OEM sagt die Abnahme kurzfristig ab, und der Lieferant kann sehen, wo er bleibt“, sagt Bernhard Jacobs, Geschäftsführer des Industrieverbands Blechumformung (IBU). Fast 90 Prozent der Teilnehmer einer IBU-Blitzumfrage zum Jahresende sind demnach betroffen; 70 Prozent dieser befragten Zulieferer müssen ihre Mitarbeiter deshalb sogar in Kurzarbeit schicken. Für den Verband ist es daher verständlich, „dass die befragten Zulieferer ihren Kunden in puncto Verlässlichkeit die Note Fünf geben“. Mehr als 23 Prozent bewerten sie sogar mit „ungenügend“.
Rund 70 Prozent der Teilnehmer beklagen, dass Hersteller nicht bereit seien, sich an den durch Produktionsstopps verursachten Mehrkosten zu beteiligen. „Nur wenige gute Kunden tun das“, so der IBU. Die Folgen sind Kurzarbeit sowie Lohneinbußen der Mitarbeiter von Zuliefererbetrieben. Besonders fatal: Diese Unternehmen haben oftmals hohe Beschaffungskosten auf dem Vormaterialmarkt in Kauf genommen, um für ihre Kunden lieferfähig zu bleiben. Und genau diese Partner lassen sie jetzt, so die Verbandsbewertung, auf den Teilen sitzen. Bernhard Jacobs: „Dabei ist jedem Kunden klar, dass es unvermeidlich ist, steigende Kosten – Stahl, Aluminium, Energie, Logistik – letztlich in der Lieferkette durchzureichen.“
War die Lage vorhersehbar?
Nicht wenige stellen sich die Frage, ob eine derart dramatische Situation nicht vorhersehbar war – zumindest für Experten. Dr. Matthias Mainz von IHK NRW beantwortet diese Frage mit einem „Ja und Nein“. Klar sei gewesen, dass mit der raschen Konjunkturerholung und den Konjunkturprogrammen in vielen Teilen der Welt die Nachfrage im Sommer stark ansteigen würde, gleichzeitig aber noch nicht die Kapazitäten von vor der Krise wieder zur Verfügung stehen würden. „Darauf haben sich viele Unternehmen bereits zum Jahresbeginn 2021 vorbereitet.“ Es zeige sich aber auch, dass sich das weltweit verflochtene Wirtschaftssystem nicht so ohne Weiteres an- und ausstellen lasse, wie es in der Corona-Krise passiert sei. „Da die Restriktionen in den Weltregionen sehr unterschiedlich sind und waren, konnten sich die Unternehmen kaum darauf einstellen. Das hat das Wiederanfahren der weltweiten Lieferketten erschwert. Handelskonflikte und Störungen im Seeverkehr haben die Krise dann im Herbst nochmals beschleunigt.“
Nicht nur Prognosen scheinen schwierig. Es stellt sich auch die Frage, ob und wie ein Wappnen gegen ähnliche Situationen in der Zukunft möglich ist. „Zu derart massiven Problemen im Welthandel kommt es hoffentlich nicht alle Tage“, meint Mainz. „Dennoch zeigt sich, dass der Welthandelspolitik mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Als rohstoffarmes und exportorientiertes Land sind wir in NRW auch in Zukunft auf funktionierende Weltmärkte angewiesen. Viele Unternehmen bemühen sich daher derzeit, ihre Lieferketten breiter aufzustellen und Abhängigkeiten zu verringern. Das geht aber nicht von heute auf morgen.“
Daniel Boss | redaktion@regiomanager.de
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