Aus der Wirtschaft heraus wird gern die öffentliche Verwaltung kritisiert – vor allem für ihre Bürokratie. Tatsächlich aber haben auch Unternehmen ein Bürokratieproblem. Über ein Drittel der amerikanischen Arbeitnehmer ist in Konzernen mit über 5000 Mitarbeitern beschäftigt. Wer im Kundenkontakt arbeitet, hat im Schnitt acht Leitungsebenen über sich – und ist weit von der Kundschaft und ihren Bedürfnissen entfernt. Bürokratie hat zwar ihre Vorteile, denn sie erlaubt ein hohes Maß an Spezialisierung, Standardisierung und Effizienz. Aber es leuchtet auch ein, dass sie Organisationen Wendigkeit, Rentabilität und Zukunftsfähigkeit nimmt.
Hausgeräte-Weltmarktführer
Haier im ostchinesischen Qingdao ist seit 2011 Weltmarktführer bei Haushaltsgeräten und hat sich von einer maroden, vor der Pleite stehenden Kühlschrankfabrik zum multinationalen Konzern mit 70.000 Beschäftigten entwickelt. Umsatzsprünge wie der von 27,1 Prozent (weltweites Wachstum erstes Halbjahr 2021 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum) sind die Regel. Haier hat sein Sortiment kontinuierlich erweitert, zum Beispiel um Mobiltelefone, Computer und Fernseher, und bringt als maßgeblicher Player im Internet der Dinge laufend Neuheiten für das „Smarthome“ heraus. Das Bedeutsamste jedoch ist, dass Haier zwar noch ein Staatskonzern ist, doch bei der Auflösung traditioneller Unternehmensstrukturen extrem fortgeschritten ist. Inzwischen besteht Haier aus weit über 4000 „Mikro-Unternehmen“ (MUs). Jedes einzelne MU trägt als eigenes Profitcenter Gewinn- sowie Verlustverantwortung.
Gut 200 der Mikrounternehmen sind die sogenannten „Nutzer-MUs“, schreibt der Harvard Business Manager in einer eingehenden Haier-Analyse. Diese marktorientierten Einheiten sind aus Haiers altem Weißware-Business hervorgegangen. Für die heutige kundenzentrierte, webbasierte Welt erfinden sie sich neu – so zum Beispiel Zhisheng, ein MU, das Kühlschränke für junge urbane Kunden herstellt. Daneben gibt es über 50 „Inkubator“-MUs: Neugründungen für Wachstumsmärkte, wie etwa Xinchu, einen Hersteller für intelligente Kühlschränke, die über Internetanbindung via externe Dienstleister innerhalb von 30 Minuten mit frischen Lebensmitteln beliefert werden können. Außerdem existieren etwa 3800 „Knotenpunkt“-MUs, die Komponenten und Dienstleistungen verkaufen. Jedes MU kann Dienstleistungen bei anderen MUs einkaufen, aber auch extern.
Ehrgeizige Ziele
Den Mikrounternehmen werden ehrgeizige Ziele gesetzt. So müssen die marktorientierten MUs beispielsweise den Branchendurchschnitt bei Umsatz- und Gewinnwachstum um den Faktor vier bis zehn übertreffen. Die Vorgaben sind in Bereichen, in denen Haier bereits führt, moderater als in Bereichen, in denen Haier zurückliegt. Die Bezahlung der Mitarbeiter hängt vom Marktergebnis ab. Zhang Ruimin sagt: „Bei Haier bezahlen wir unsere Mitarbeiter nicht mehr selbst; sie werden von unseren Kunden bezahlt.“ Dieser Perspektivwechsel beugt Mittelmäßigkeit vor, denn Knotenpunkte mit schlechtem Service verlieren ihre internen Kunden. Die Einbindung der MUs in das Haier-Netz bürgt ihrerseits für Exzellenz: Droht einem Nutzer-MU, seine Ziele zu verfehlen, treffen sich umgehend Vertreter der beteiligten Knotenpunkt-MUs, um das Problem zu lösen.
Der dritte Vorteil besteht in der Flexibilität. Denn marktorientierte MUs können sich frei für andere Dienstleister entscheiden. Bei den meisten Großunternehmen ist der Anteil leistungsabhängiger Gehaltsanteile auf zehn bis 20 Prozent begrenzt. Die Botschaft an die Beschäftigten: Dein Beitrag am Erfolg ist bescheiden. Bei Haier ist der leistungsabhängige Gehaltsanteil erheblich höher sowie eine Ermutigung für alle Beschäftigte, unternehmerisch zu denken und zu handeln.
„Fortune-500-Syndrom“
Zhang Ruimin, heute 72-jähriger Arbeitersohn, besuchte keine zehn Jahre die Schule, saß im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und studierte erst in den 90er-Jahren Wirtschaft. Von ihm, dem „Philosophen unter den CEO“, stammt das Wort vom „Fortune-500-Syndrom“. Neun von zehn Unternehmen der Fortune-500-Liste von 1955 seien heute verschwunden und auch viele der aktuellen Fortune-500-Unternehmen dürften bald verdrängt werden. „Fehlender Unternehmergeist ist der Hauptgrund, weshalb Konzerne schließlich verfallen“, teilte Zhang Ruimin der Wirtschaftswoche mit. „Die Firma der Zukunft“, so sagt er, „hat keine Angestellten mehr.“ Die klassische Pyramidenstruktur von Unternehmen – so das Ziel – macht bei Haier sukzessive einer nach oben hin offenen vernetzten „Regenwaldstruktur“ Platz. Es muss aber dazu gesagt werden, dass Zhang Ruimin 10.000 Führungspersönlichkeiten entließ – in Europa wäre das nicht gegangen.
Anders als bei klassischen, top-down organisierten Unternehmen sind bei Haier alle MUs in Plattformen organisiert. Die Rolle des Plattformeigentümers ist es, MU-Teams zusammenzuführen und ihre Zusammenarbeit zu unterstützen. So kann eine Plattform beispielsweise MUs aus dem Kühlschrankbereich vereinen. Plattformeigentümer bieten also einen Rahmen für MUs, sind aber selbst Unternehmer, die ihrerseits Ziele und Vorgaben zu erfüllen haben. So müssen sie die Plattform vergrößern, indem sie etwa den Aufbau neuer Mikrounternehmen unterstützen. Auf diese Weise entstand Xinchu, ein Start-up für vernetzte Kühlschränke.
Öffentliche Entwicklung
Bei Haier sind Innovation und Entwicklung öffentlich. Vielfach finden sie über das Internet statt. So entwickelte man eine neue Klimaanlage für Privathaushalte, indem man auf der Social-Media-Plattform Baidu potenzielle Nutzer nach ihren Bedürfnissen befragte. Der Lösung technischer Probleme dient ein weltweites Netzwerk von 400.000 sogenannten Lösern. Crowdsourcing wird eingesetzt, um Feedback zu geplanten Produkten einzuholen und die Entwicklungskosten zu externalisieren. So entstand der Air Cube, der sowohl Luftbefeuchter als auch Luftreiniger ist, mit Feedback von „Fans“ sowie dem Verkauf des Prototypen auf einer Crowdfunding-Site. Haier konnte durch solche Maßnahmen die „Time to market“ um 70 Prozent senken.
In Europa ist Haier bei Weißware noch die Nummer 5, will aber bis 2023 um zwei Plätze vorrücken – ein realistisches Ziel. Zwar dominieren Haier-Geräte den Weltmarkt. Das Gleiche gilt jedoch nicht für das dahinterstehende radikale Unternehmenskonzept. Es sind tendenziell eher kleinere Organisationen, die mit Teilaspekten wie Scrum, Agilität, Holacracy einen Kulturwandel einleiten. Der Totalumbau eines Großkonzerns à la Haier jedoch bleibt vorerst einzigartig.Claas Syrt Möller
| redaktion@regiomanager.de
Teilen: