Management

Mehr oder weniger demokratisch

Was bekämpft die Pandemie am besten, was rettet die Wirtschaft? Deutschland ist in dieser Frage tief gespalten – bei explodierenden Infektionszahlen.

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von Regiomanager 30.11.2020
(Foto: ©Feydzhet Shabanov – stock.adobe.com)

Die im Frühjahr im Eiltempo – gegen Linkspartei und AfD – durchgewinkten Gesetze zur Abfederung der Corona-Krise sind der größte kollektive Grundrechtseingriff der bundesdeutschen Geschichte. Ein kurz getakteter, kaum durchschaubarer Strom an Verordnungen und Erlassen regelt seitdem das Leben der Menschen. Vorrang hat der Schutz von Risikogruppen: insbesondere von Älteren und Patienten mit bestimmten Vorerkrankungen. Auch die Opposition hielt still, fand sich lange damit ab, dass eine Pandemie als „Stunde der Exekutive“ gilt. Ein neuer Gesetzentwurf aus dem Gesundheitsministerium soll die Sonderkompetenzen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sogar verlängern und erweitern. Eigentlich laufen sie Ende März 2021 aus. Nun allerdings reicht es führenden Abgeordneten aller Parteien. Der Bundestag will wieder mitreden. Ein Gutachten für Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hat den Tenor: Je stärker der Grundrechtseingriff ist, desto dringlicher muss der Bundestag damit befasst werden.

Gefährlicher als Finanzkrise

Corona bedroht insbesondere den Mittelstand stärker als die globale Finanzkrise von 2008, da diesmal die gesamte Wirtschaft betroffen ist, glaubt Patrik-Ludwig Hantzsch, Chef der Creditreform. Damals stiegen die Unternehmensinsolvenzen in Deutschland um rund zwölf Prozent an. Durch Corona rechnet er mit mehr. Die letzte Wirtschaftseinbruchsprognose des IWF (2020 minus sechs Prozent, 2021 plus 4,2 Prozent) könnte je nach Verlauf der zweiten Corona-Welle bereits obsolet sein – und ein harter Brexit könnte dazukommen. Der Ende Oktober bei einem Autounfall verstorbene Mittelstandspräsident Mario Ohoven riet ab von einem zweiten Lockdown: „Die Maßnahmen gegen Corona dürfen nicht gefährlicher sein als das Virus selbst. Ein erneutes Herunterfahren der Wirtschaft wäre wie ein zweiter Herzinfarkt: deutlich gefährlicher als der erste.“ Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will einen erneuten Lockdown „auf jeden Fall verhindern“. Sie sagt: „Was der Gesundheit dient, dient also auch dem wirtschaftlichen Ablauf.“

Viele Infektionen, wenige Todesfälle

In Deutschland sterben wöchentlich zwischen 16.000 und 20.000 Menschen. Die Gesamtzahl an Corona-Todesopfern bis zum 6. November: 11.110. Während COVID-19 im April mit über 2.200 Todesfällen die Gesamtsterblichkeit noch klar steigerte, hat seitdem eine Entkopplung stattgefunden: sehr viele Fälle, aber sehr wenige Krankenhauseinweisungen und wenige Todesfälle. Die wöchentlichen COVID-19-Todesfälle lagen monatelang deutlich unter 100. Seit Mitte Oktober steigen sie zwar an, aber bei Weitem nicht so stark wie die Neuinfektionen. Corona ist deutlich gefährlicher als die Grippe, aber „Corona wird nicht unser Untergang sein“, sagt Professor Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie und HIV-Forschung am Uniklinikum Bonn. Die Übersterblichkeit bei der Hitzewelle 2018 und bei der Grippewelle 2017 sei viel ausgeprägter gewesen. Streeck plädiert für „eine neue Routine“. Man solle sich vor Sorglosigkeit hüten, aber mit dem Risiko intelligent umzugehen lernen. „Wir können nicht auf einen Pausenknopf drücken und denken, das Virus sei dann vorbei. Wir sind in einer Dauerwelle.“ Nach der zweiten werde es auch eine dritte und vierte Welle geben.

Impfungen und Medikamente

Impfungen werden an der epidemischen Situation nichts ändern, weitere Schutzmaßnahmen müssten aufrechterhalten werden, heißt es bei der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut. Zwar werde wohl ab Mitte 2021 geimpft, aber wie gut und wie lange die Impfstoffe wirken werden und wie nebenwirkungsfrei sie sein werden, ist noch unklar: Sie werden ja erst erprobt. Auch kann nicht die ganze Bevölkerung gleichzeitig geimpft werden. Immerhin gibt es inzwischen Medikamente zur COVID-19-Therapie: Die neue Ebola-Arznei Remdesivir kann schwere Verläufe abkürzen; das altbekannte Dexamethason hemmt die überschießende Entzündungsreaktion des Körpers als Antwort auf das Virus.

Streeck vs. Drosten

Wohl noch bekannter als der eher liberale Hendrik Streeck ist Professor Christian Drosten, Chef-Virologe an der Berliner Charité und wohl Bekanntester seiner Zunft in Deutschland. Drosten drückt sich mitunter drastisch aus. Beispiel: Bei über 85 Jahre alten Menschen, die mit Corona infiziert sind, stürben so viele „wie bei den Pocken im Mittelalter“. Deutschland sei dabei, seine in Europa gute Position in der Corona-Bekämpfung zu verspielen, warnt Drosten. „Drosten steht für eine harte, strenge Isolationsstrategie mitsamt Lockdown und konzipiert damit die Verbotspolitik der Kanzlerin“, formulierte Wolfram Weimer für n-tv. Mahner wie Drosten sind entschieden gegen eine Corona-Strategie mit dem Ziel einer Herdenimmunität. Eine unkontrollierte Durchseuchung würde zu einer eskalierenden Zunahme an Todesopfern führen, schreibt die Gesellschaft für Virologie (GfV). Ältere sind besonders gefährdet und brauchen Schutz – da herrscht Einvernehmen. 85 Prozent aller COVID-19-Opfer in Deutschland waren bei ihrem Tod über 70. Aber es gibt weitere Risikofaktoren: etwa Übergewicht, Diabetes, Krebs, Nieren-, Lungen- oder Leberleiden, Schlaganfall, Transplantationen und Schwangerschaft. Bis zu zehn Prozent der Infizierten könnten dauerhaft an Corona-Spätfolgen leiden, befürchtet Winfried Kern von der Nachsorgeambulanz der Uniklinik Freiburg. Die Mahner sorgen sich, dass durch explodierende Infektionszahlen schon jetzt mancherorts Kontakte nicht mehr nachverfolgt werden können und dass in der Pflege Personalknappheit droht – dann nutzt es auch nicht, dass die Zahl der Intensivbetten bisher ausreicht.

Panikmache?

Eine Gruppe von Wissenschaftlern um den renommierten Gesundheitsökonomen Gerd Glaeske wirft Bund und Ländern vor, die Bevölkerung mit immer neuen Drohungen wie „lang andauernder Winter“, „Weihnachten im Lockdown“ und „es könnte für Sie kein Intensivbett mehr frei sein“ zur Disziplin bewegen zu wollen, um einen erneuten Lockdown zu verhindern. Ähnlich äußern sich Klaus Reinhardt, der Chef der Bundesärztekammer, und der Unions-Fraktionsvize Carsten Linnemann (CDU). Dieser warnte davor, durch immer schärfere Maßnahmen und durch „Drohkulissen“ den großen Teil der Bevölkerung zu bestrafen, der sich an die Corona-Regeln halte.
Wie sagte die Kanzlerin im August? „Das Virus ist eine demokratische Zumutung.“
Claass Möller | redaktion@regiomanager.de

INFO

Nischen nutzen

Ergreifen Sie gerade jetzt alle sich bietenden Chancen. Suchen Sie Nischen und entwickeln Sie maßgeschneiderte Lösungen für Ihre Kunden. Unternehmen, die sich digital gut aufgestellt haben, kommen besser durch die Krise. Wer seine Waren und Dienstleistungen online anbietet, macht sich ein Stück weit unabhängiger von den unmittelbaren Einschränkungen des stationären Handels. Im besonders betroffenen Hotel- und Gaststättengewerbe, das unter Beherbergungsverboten und Sperrstunden leidet, oder im Messebau, der de facto einem staatlich verordneten Auftragsstopp unterworfen ist, ist die Situation wesentlich schwieriger. Hier kann ich nur empfehlen, die staatlichen Liquiditäts- und Überbrückungshilfen umfänglich zu nutzen.


Digitaler werden

Wir empfehlen die Prüfung der zahlreichen Unterstützungs- und Fördermöglichkeiten. Hier gibt es inzwischen eine ganze Bandbreite für die verschiedensten Unternehmen. Wichtiger denn je ist es, seine persönlichen Stärken zu zeigen, beispielsweise durch die Beteiligung an Kampagnen wie „Anfassbar gut“, einer Initiative des Handelsverbands zur Belebung unserer Städte, um den lokalen Handel sichtbarer zu machen. Ein großes Thema war und ist außerdem die Digitalisierung. Hier mussten einige Händler schnell dazulernen, um weiter und leicht für die Kunden erreichbar zu sein. Unsere Digital-Coaches sind da die genau richtigen Ansprechpartner.


Kostenseite checken

Es ist empfehlenswert, spätestens jetzt Krisenpläne für unterschiedliche Szenarien aufzustellen. In der aktuellen Situation sollten Unternehmen ihre Finanzierung und die Kostensituation hinterfragen sowie Hilfsmaßnahmen und die Förderungen von Bund und Land prüfen und auch in Anspruch nehmen. Darüber hinaus können sie ihr Geschäftsmodell anpassen oder weiterentwickeln und so neue Wege und Lösungen finden. Gerade die Digitalisierung bietet unternehmensintern als auch extern viele neue Chancen, um zum Beispiel Prozesse zu optimieren, Kommunikationswege zu gestalten oder neue Zielgruppen zu erreichen. Die IHKs in NRW stehen den Unternehmen mit ihrer Beratung und einer Vielzahl an Webinaren, zum Beispiel zu Finanzierungsfragen, Kurzarbeitergeld, Notfallplänen, rechtlichen Fragen oder Digitalisierungsthemen, unterstützend zur Seite.


Neu ausrichten

Angesichts steigender Infektionszahlen kommt es darauf an, dass wir die Einschränkungen für das wirtschaftliche Leben so gering wie möglich halten. Wirksame Hygiene- und Abstandsmaßnahmen in den Werkstätten, Büros und Geschäften bleiben dafür entscheidend. Betriebe des Handwerks wie Friseure, Kosmetiker oder Lebensmittelhandwerke sind da sehr vorbildlich aufgestellt. Wir können nicht darauf setzen, dass wir irgendwann wieder in die alte Normalität zurückkehren werden. Denn vieles ändert sich auf Dauer. Betriebe, deren Geschäftsmodelle durch die Corona-Krise stark betroffen sind, müssen sich deshalb möglichst schnell neu ausrichten. Es kommt jetzt mehr denn je auf die Flexibilität und den Unternehmergeist des Mittelstandes an.


Vorsicht beim Stellenabbau

Die Situation in der überwiegend mittelständisch geprägten Reisewirtschaft ist dramatisch. Die Umsatzeinbrüche belaufen sich auf 70, 80, 90 Prozent. Die Besonderheiten der Touristik mit verkauften Reisen, die kurzfristig storniert und rückabgewickelt werden müssen, führen zu bisher nicht gekannten Liquiditätsengpässen. In dieser Situation ist es wichtig, schnell die richtigen Stellschrauben zu drehen, was nicht einfach ist. Ein Stellenabbau zum Beispiel kann in der aktuellen Krisensituation kurzfristig sinnvoll erscheinen, sich jedoch mittelfristig als kontraproduktiv erweisen. Die Corona-Pandemie belastet die Reisewirtschaft auch durch sich kontinuierlich ändernde Reisebestimmungen. Dies verunsichert die Kunden. Gerade jetzt ist daher die Beratungsexpertise der Fachkräfte im Reisebüro gefragt – die Beratung erlebt eine Renaissance und Reisebüros können hier punkten.


Verantwortbares ermöglichen

Die Deutsche Orchestervereinigung (DOV) hat den Orchestern für den Proben- und Vorstellungsbetrieb unter Corona-Bedingungen empfohlen, Hygiene- und Sicherheitskonzepte so aufzustellen, dass sie einen maximalen Gesundheitsschutz für die Beschäftigten bieten und gleichzeitig die behördlichen Empfehlungen passgenau umsetzen. Dies betrifft insbesondere Mindestabstände zwischen einzelnen Orchestermitgliedern, im Einzelfall zusätzliche Plexiglas-Abschirmungen, optimale Belüftung und Pausen. Auch die regelmäßige COVID-19-Testung aller aktuell eingesetzten Orchestermitglieder ist an einzelnen Standorten eine Option. Bei der Frage der zulässigen Publikumszahl im Saal hat sich die DOV gegenüber den zuständigen Stellen in den Bundesländern dafür eingesetzt, in der Regel mindestens 50 Prozent der Saalkapazität zu nutzen, auch hier unter Umsetzung einschlägiger Hygiene- und Sicherheitskonzepte, Schlagwort: „Das Verantwortbare ermöglichen.“

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Fotostrecke

Carina Peretzke, Pressereferentin Handelsverband Nordrhein-Westfalen

Gerald Mertens, Geschäftsführer Deutsche Orchestervereinigung (Foto: Maren Stehlau)

Kerstin Heinen, Leiterin touristische Kommunikation Deutscher Reiseverband

Mario Ohoven, Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (verstorben am 31.10.2020)

Prof. Dr. Hans Jörg Hennecke, Hauptgeschäftsführer Handwerk.NRW

Ralf Mittelstädt, Hauptgeschäftsführer IHK NRW (Foto: Mara Tröger)

(Foto: ©eremias münch – stock.adobe.com)

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