Öffentliche Aufträge haben eine enorme wirtschaftliche Bedeutung, insbesondere auch für die Bauwirtschaft. Innerhalb der EU werden nach Angaben des Europäischen Rechnungshofes jährlich Aufträge in der Größenordnung von rund zwei Billionen Euro vergeben, ein erheblicher Teil davon für Bau-, Architekten- und TGA-Leistungen. Allein für Deutschland beläuft sich das Auftragsvolumen auf mehrere hundert Milliarden Euro.
Damit auch kleinere Architekturbüros und mittelständische Unternehmen von diesen Aufträgen profitieren können, wurden die Vergaberichtlinien in einem ersten Schritt 2014 und 2016 reformiert. Alles sollte einfacher, transparenter und digitaler werden, immer mit dem Ziel, den Kreis der möglichen Bewerber zu erweitern, so für mehr Wettbewerb zu sorgen und damit nicht zuletzt die Qualität und Wirtschaftlichkeit der zu erbringenden Leistungen zu verbessern. Die aktuelle Regierungskoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP hat in ihrem Koalitionsvertrag eine weitere Reform des Vergaberechts vereinbart. Künftig sollen unter anderem soziale und ökologische Aspekte bei der Vergabe stärker berücksichtigt werden, ohne die Zugangshürden für kleinere Anbieter zu erhöhen.
Reformen der Vergabeordnung haben bislang nicht zum gewünschten Ergebnis geführt
In der Praxis haben die Reformen jedoch noch nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt. Der Europäische Rechnungshof hat bei einer Überprüfung festgestellt, dass rund 42 Prozent aller Aufträge im Einbieter-Verfahren vergeben werden und damit die Ziele klar verfehlt werden. Der EU und ihren Mitgliedsstaaten sei es nicht gelungen, den Wettbewerb zu stärken, lautet das Fazit der Prüfer. „Wir müssen nun leider von einem verlorenen Jahrzehnt sprechen”, sagt Helga Berger, Mitglied des Europäischen Rechnungshofs. Die wichtigsten Wettbewerbsindikatoren wie die Zahl der Bieter und die Direktvergaben hätten sich nicht in die gewünschte Richtung entwickelt. Insbesondere die Direktvergabe sollte nach Ansicht des Rechnungshofes die Ausnahme bleiben, auch wenn sie unter bestimmten Umständen rechtlich zulässig ist. Tatsächlich würden jedoch rund 16 Prozent aller Ausschreibungen direkt vergeben.
Es stellt sich die Frage, warum es nicht gelingt, mehr Wettbewerb bei öffentlichen Ausschreibungen zu erreichen. Auch darauf haben die Prüfer eine Antwort. In erster Linie seien der hohe Verwaltungsaufwand und die teilweise sehr restriktiven Ausschreibungsbedingungen, die nur bestimmte Anbieter erfüllen könnten, ausschlaggebend für den fehlenden Wettbewerb. Der angestrebte Bürokratieabbau sei praktisch nicht erfolgt, vielmehr habe sich die Bürokratie in den letzten zehn Jahren nahezu verdoppelt. Für die Anbieter stellt sich daher immer mehr die Frage, ob Kosten und Nutzen noch in einem akzeptablen Verhältnis stehen. Das Ergebnis ist also nicht mehr europäischer Wettbewerb, sondern nach wie vor eine Vergabe an den billigsten nationalen Anbieter ohne Berücksichtigung weiterer Kriterien.
Diese Entwicklung könnte sich in den nächsten Jahren noch verstärken, auch wenn eine Änderung der Vergabeverordnung aus dem letzten Jahr eigentlich das Gegenteil bewirken sollte. Verantwortlich dafür ist § 3 Abs. 7 Satz 2 der Vergabeverordnung (VgV). Dieser regelt die Berechnung der einzelnen Planungsleistungen. Konkret bedeutet dies, dass für die Berechnung des Schwellenwertes alle Planungsleistungen einzeln betrachtet werden. Dies betrifft z.B. die Architektenleistung, die Statik-Berechnung, die Haustechnik etc. Nur wenn der Schwellenwert eines Bereiches überschritten wurde, musste EU-weit ausgeschrieben werden. Dies ist eine Besonderheit, die explizit nur für Planungsleistungen vorgesehen war. In der Praxis führte dies dazu, dass die Auftragswerte der Planungsleistungen häufig nur innerhalb der Grenzen der Leistungsbilder der HOAI (Honorarordnung für Architekten und Ingenieure) addiert wurden.
Ersatzlos gestrichen – Auswirkungen auf die Praxis
Allerdings wurde § 3 Abs. 7 Satz 2 VgV mit Wirkung zum 24.08.2023 gestrichen. Dies bedeutet, dass die einzelnen Planungsleistungen nun zusammengerechnet werden müssen und somit auch bei kleineren Bauvorhaben der Schwellenwert für eine europaweite Ausschreibung schneller überschritten wird. Zudem greifen dann auch andere rechtliche Vorgaben, beispielsweise aus dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). Ab dem 1. Januar 2024 gelten neue EU-Schwellenwerte, ab denen eine europaweite Ausschreibung verpflichtend ist. So wurde der Schwellenwert für Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren von 215.000 Euro auf 221.000 Euro angehoben.
Warum wurde § 3 Abs. 7 Satz 2 VgV nun ersatzlos gestrichen? Hintergrund ist ein Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Union gegen die Bundesrepublik Deutschland. Die EU-Kommission sah in der Regelung einen Verstoß gegen europäisches Recht und leitete 2019 ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Die Bundesregierung sah keine grundsätzlichen rechtlichen Probleme und gab dem Druck aus Brüssel gegen den Widerstand der Architektenkammern und Berufsvertretungen sowie der kommunalen Spitzenverbände nach.
Mit der jetzt in Kraft getretenen Änderung müssen bereits Bauvorhaben mit einem Auftragswert von weniger als einer Million Euro europaweit ausgeschrieben werden. Damit werden die Verfahren sowohl für die Auftraggeber als auch für die Bieter deutlich aufwändiger. In der Branche wird nun befürchtet, dass Kommunen und andere öffentliche Auftraggeber ihre Ausschreibungen eher an Bieter richten, die als Generalunternehmer das komplette Bauvorhaben inklusive aller Planungsleistungen übernehmen können. Kleinere Büros und mittelständische Anbieter wären damit praktisch ausgeschlossen. Insgesamt rechnen Experten mit einer Verzehnfachung der europäischen Ausschreibungen.
Also alles klar mit den neuen Vorschriften? Tatsächlich gibt es nach wie vor unterschiedliche Rechtsauffassungen über die Rechtmäßigkeit der Streichung und die nun geltende Auslegung des Gesetzes. So hat der Bundesrat bereits während des Gesetzgebungsverfahrens das federführende Bundeswirtschaftsministerium um Klarstellung insbesondere hinsichtlich der für den Schwellenwert relevanten Auftragswertberechnung gebeten. Konkret geht es um die Frage, welche Planungsleistungen zusammenzufassen bzw. zu addieren sind. Das Ministerium geht von einer funktionalen Betrachtung aus, bei der die Teilleistungen in wirtschaftlicher und technischer Hinsicht eine „funktionale Kontinuität“ aufweisen. Im Zweifelsfall obliege die Prüfung den Vergabestellen.
Unterschiedliche Rechtsauffassungen zur Berechnung des Auftragswerts
Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob Planungsleistungen als Teil der Bauleistung angesehen werden können. Sollte dies der Fall sein, käme der deutlich höhere Schwellenwert von 5,382 Mio. Euro zur Anwendung, was wiederum die Anzahl der erforderlichen europaweiten Ausschreibungen reduzieren würde. Allerdings bewegt sich dieses Vorgehen in einer rechtlichen Grauzone, denn grundsätzlich müssen Leistungen in Losen ausgeschrieben werden, die Planungsleistungen wären dann ein eigenes Los. Gestützt wird dieses Vorgehen allerdings durch ein Gutachten des Rechtsexperten Prof. Dr. Martin Burgi von der LMU München aus dem Februar 2024. Er hält die „gemeinsame“ Vergabe von Planungs- und Bauausführungsleistungen unter bestimmten Bedingungen für zulässig. Burgi argumentiert, dass der EU-Schwellenwert für Bauleistungen auch auf Planungsleistungen angewendet werden kann, wenn diese gemeinsam mit den Bauleistungen vergeben werden. Die Planung sei dabei lediglich ein „Fachlos“, welches im Rahmen eines Bauauftrags als Teil des Gesamtprojekts gesehen werden könne.
Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, das europaweite Verfahren zu umgehen. So können etwa 20 Prozent der Honorare für Planungsleistungen grundsätzlich national ausgeschrieben werden. Damit können die Schwellenwerte im Einzelfall unterschritten werden und die Ausschreibung bleibt national.
Die tatsächlichen Auswirkungen der Streichung des § 3 Abs. 7 Satz 2 VgV können derzeit noch nicht abschließend beurteilt werden. Während Rechtsexperten die nun höhere Rechtssicherheit als positiven Effekt bewerten, befürchten Architektenkammern eher Qualitätseinbußen. Im offenen Wettbewerb könnten die Bauherren zu sehr auf die Kosten achten, wodurch qualitative und innovative Entwurfsideen weniger geschätzt würden, so ihre Einschätzung. Die Kammern warnen davor, dass dies zu einer „Standardisierung“ von Architektenleistungen führen könnte, bei der der billigste Anbieter den Zuschlag erhält, unabhängig von der kreativen und gestalterischen Qualität. Zudem würden kleinere Büros benachteiligt, da sie aufgrund ihrer Ressourcen nicht in der Lage seien, an komplexeren Ausschreibungen teilzunehmen.
Damit stünden den negativen Auswirkungen keine erkennbaren Vorteile im Sinne einer Stärkung des Wettbewerbs gegenüber, argumentiert der Bund Deutscher Architekten und stützt sich dabei auf eine Studie des Architects Council of Europe. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass es im Bereich der Architektur nur wenige grenzüberschreitende Dienstleistungen gibt, vor allem weil Sprachbarrieren die Zusammenarbeit in diesem komplexen Umfeld erschweren. Zudem müsse die Planungsleistung der Bauleitung vor Ort erbracht werden, was für kleinere Büros eine zusätzliche Erschwernis darstelle.
Thomas Feldhaus | redaktion@regiomanager.de
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