Management

Gut versorgt: Die Kantine, neu erfunden

Das leibliche Wohl abzudecken wird für Unternehmen im Ringen um Talente immer wichtiger. Die gute Nachricht: Auch kleine Betriebe können einiges tun.

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von Regiomanager 10.01.2023
(© lassedesignen – stock.adobe.com)

Als 2021 eine von neun Betriebskantinen von VW in Wolfsburg verkündete, künftig keine Currywurst mehr anzubieten, ging ein Aufschrei durchs Werk. Auch Currywurstexperte Gerhard Schröder, früher Ministerpräsident in Hannover und Kanzler in Berlin, empörte sich: „Wenn ich noch im Aufsichtsrat von VW säße, hätte es so etwas nicht gegeben. Currywurst mit Pommes ist einer der Kraftriegel der Facharbeiterin und des Facharbeiters in der Produktion. Das soll so bleiben.“ Womit klar ist: Essen ist eine emotionale Sache; die Beharrungskräfte sind groß. Die Top drei in deutschen Kantinen sind bis heute Schnitzel mit Pommes, Spaghetti bolognese und Currywurst. „Man braucht kein Studium in Ernährungswissenschaften, um zu sagen: Das ist ernährungsphysiologisch ungünstig“, sagt Professorin Dr. Carolyn Hutter, Studiengangsleiterin BWL-Food Management an der Dualen Hochschule Baden Württemberg. Den Unternehmen werde zunehmend bewusst, dass sie nicht davon profitieren, wenn ihre Mitarbeiter nach der Mittagspause zwei Stunden im „Fresskoma“ vor sich hin dösten. „Es findet ein Umdenken statt, allerdings muss man da die Beschäftigten auch mitnehmen. Es ist nicht damit getan, zu sagen: Wir stellen das jetzt um und ab morgen gibt’s nur noch Gesundes.“

Kantinenranking

Um dieses Umdenken voranzubringen, zeichnet der Verein Food & Health seit vier Jahren Kantinen aus, die man bewusst auch so nennt: „Die Kantine hatte lange Zeit ein negatives Image. Man dachte an eine Dame mit Haarnetz, die einem eine braune Pampe auf den Teller klatscht“, sagt Vereinsvorsitzende Theresa Geisel. „Für uns aber ist die Kantine positiv besetzt und wir halten daran fest, weil jeder weiß, was damit gemeint ist. Wir wollen zeigen, dass die Kantine die einzige Gastronomieform ist, die täglich vom Fließbandarbeiter bis zum CEO die gesamte Breite der Gesellschaft versorgt und ihnen eine Ernährungsgrundlage bildet: Oftmals wird in der Kantine die einzige warme Mahlzeit des Tages eingenommen.“ Die Liste der ausgezeichneten Kantinen liest sich teilweise wie ein Who‘s who der deutschen Wirtschaft. Beim Test 2022 belegten in der Gruppe über 300 Essen die ersten Plätze: Allianz, Axel Springer, Vector Stuttgart, Union Investment und Rational; in der Gruppe bis 300 Essen Vector Regensburg, Haufe-Lexware, MorphoSys, Fresenius und AXA, Wiesbaden. Die beiden Standorte der Vector Informatik GmbH werden übrigens von einer Tochter der Edelgastronomie von Traube Tonbach bekocht, allerdings zu demokratischen Preisen. In den vergangenen vier Jahren wurden auch Airbus, Allianz, SAP, BMW und die Mercedes-Benz Group ausgezeichnet. Die Firmen können sich selbst bewerben und zahlen einen Kostenbeitrag von 1.490 Euro.

Ganzheitliche Betrachtung

Wie sich Unternehmen zu Megatrends und Herausforderungen positionieren, bestimmt ganz entscheidend, wie engagiert sie sich der Betriebsverpflegung widmen, ist die Beobachtung von Professorin Carolyn Hutter. „Unternehmen, die grundsätzlich mehr Wert legen auf Gesundheit, etwa durch Angebote für Sport, Fitnessstudios, Wellness und Achtsamkeit, werden auch größeres Augenmerk legen auf die Betriebsverpflegung. Es geht um eine Verzahnung von betrieblichem Gesundheitsmanagement und Verpflegung.“ Und das kann sich lohnen: Firmen, die in innerbetriebliche Gesundheitsförderung und Prävention von ernährungsbedingten Krankheiten – und damit in die Betriebsverpflegung – investieren, erzielen für jeden investierten Euro einen Return on Investment von 2,70 Euro, wie erste Studien belegen. Umgekehrt stellt ein dank „Fresskoma“ verdöster Nachmittag einen negativen Return on Investment dar.

Übergewicht senkt BIP

Auch Theresa Geisel von Food & Health liegt die ganzheitliche Betrachtung am Herzen, nicht zuletzt eingedenk der Tatsache, dass unsere Ernährungsweise eine der Hauptquellen für die Freisetzung von Treibhausgasen ist: „Unser Anliegen ist es, die besten Dinge voranzubringen“, sagt sie. „Nachhaltigkeit, Tierwohl, Gesunderhaltung der Beschäftigten: Die Kantinen sind der Ort, an dem nicht wenige Menschen 30 bis 40 Jahre lang ihre Hauptmahlzeit einnehmen. Ernährungsbedingte Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck belegen Platz eins der Todesursachen.“ Ein OECD-Vergleich zeigt, dass in Staaten mit verbreitetem Übergewicht das Bruttoinlandsprodukt sinkt. Außerdem will Food & Health mit den Rankings das gängige Vorurteil entkräften, dass Essen für über 50 Personen nicht gut sein kann.

Zertifizierungen

Frisch kochen, kurze Garzeiten, Niedrigtemperaturgaren, schonende Zubereitung: Nicht zuletzt neue Technik-Ausstattung in den Kantinen macht es möglich, ein für alle Mal Schluss zu machen mit beispielsweise verkochtem Gemüse, meint auch Koch und Foodblogger Michael Loitz vom Projekt: Essen & Ernähren. Es ist höchste Zeit, meint er: „Aus meiner Sicht schreit der Tischgast nach Qualität und Aufklärung, sein Anspruch steigt: Die Betriebsgastronomien müssen sich Mühe geben, ihr Angebot wie ein Restaurant zu gestalten; mit Aktionswochen, saisonalen und regionalen Zutaten, um die Leute auch wirklich anzulocken.“ Loitz‘ Organisation setzt stark auf Zertifizierungen und Audits, die die Qualität objektiv steigern und den Gästen Orientierung geben.

Employer Branding

Zu Themen wie „Essen, Trinken und Kochen“ posten heute 19,3 Prozent der Social-Media-Nutzer; nur der Komplex Musik, Kunst und Kultur wurde mit 19,4 Prozent noch etwas häufiger genannt. Das Thema Ernährung ist so wichtig, dass sich damit auch das Employer Branding steigern lässt, wie Professorin Carolyn Hutter aus Gesprächen mit Betrieben weiß. „Geschäftsleitungen nehmen die Abteilungen für Betriebsverpflegung mittlerweile schon ein Stück weit in die Verpflichtung, ihre Kantinen so attraktiv zu machen, dass die Leute Lust haben, ins Office zu kommen.“ Immer mehr sollen Kantinen auch Orte zum Austausch zwischendurch werden – also nicht nur zwischen 11.30 und 13.30 Uhr.

Corona-Einbruch

Ernährungs-Blogger Loitz weist darauf hin, dass während der Corona-Pandemie viele Kantinen für ihre Gäste auch die Möglichkeit geschaffen haben, Essen nach Hause mitzunehmen; teilweise gab es die Menüs sogar schon fertig verpackt. Trotzdem: „Die Kantinen haben stark gelitten“, so Loitz. Vor Corona bekochten sie rund 9,5 Millionen Menschen täglich. Die Umsätze von Kantinenbetreibern fielen in der Lockdown-Zeit dramatisch. Ein neues Problem ergibt sich durch das neue „hybride Arbeiten“: An Montagen und Freitagen bleiben viele Beschäftigte zu Hause – ein Problem, das externe Contract Caterer vermutlich noch etwas besser auffangen können als Kantinenbetreiber in Eigenregie. Kantinen werden entweder von den Unternehmen in Eigenregie betrieben oder von Contract Caterern, die das Essen anliefern oder auch vor Ort kochen. „In meiner Wahrnehmung sind Caterer innovativer unterwegs“, sagt Professorin Carolyn Hutter. „Sie haben ernährungsphysiologisch den besseren Background. Weil sie an Ausschreibungen teilnehmen, stehen sie in größerem Wettbewerb.“

Steuerbare Qualität

Bei Gesoca hat man sich das Ziel gesetzt, die Qualität in der Betriebsgastronomie mess- und steuerbar zu machen. „Frage ich einen Topmanager: Macht es eigentlich für dich Sinn, Geld in eine Leistung zu investieren, die dafür sorgt, dass deine Mitarbeiter am Nachmittag schlafen und in zehn Jahren Diabetes haben, würde er immer sagen: Nein“, erläutert Gesoca-Gründer Christian Feist. „Aber zwischen Vorstand und Gastrochef liegen meist mehrere Hierarchieebenen. Der Facility Manager als Vorgesetzter des Gastrochefs hat Kostenziele. Den interessieren unternehmensphilosophische Fragestellungen nicht.“ Feist fügt hinzu: „Köche haben kein betriebswirtschaftliches Interesse, die Verhältnisse so zu verändern, dass sich die Gäste wirklich gesünder ernähren.“ Gesoca hat darum Steuerungsinstrumente für ernährungsphysiologisch gutes Essen geschaffen, die den Nutzen für Unternehmen sichtbar machen. Das Unternehmen erhebt, wie gesundheitsförderlich sich die Gäste ernähren, und ermittelt daraus eine Kennzahl. Diese wird in den Verträgen mit externen Caterern und in Zielvereinbarungen von den Küchenleitern in Eigenregie festgeschrieben. So wird das Ernährungsverhalten zum betriebswirtschaftlichen Interesse des Kochs.

Ampelsystem

Küchenchefs bewerten ihre Rezepte über ein Ampelsystem (grün: leistungserhaltend; gelb: leistungsneutral; rot: leistungsmindernd). Dieses gibt Aufschluss, z.B. wenn durch einmal Cordon Bleu und einmal Currywurst ein in der Zielvereinbarung festgelegtes Wochenmaximum von zwei rot gekennzeichneten Speisen schon aufgebraucht ist. Will der Küchenchef in derselben Woche nun Spaghetti bolognese kochen, die ernährungsphysiologisch ebenfalls das Ampelrot trägt, ist es nun an der Kreativität des Küchenchefs, dieses Gericht ernährungsphysiologisch aufzuwerten. „So bekommt der Koch übrigens auch ein anderes Standing.“ Die Verbesserung der Qualität kann durchaus kostenneutral sein, etwa indem viel schlechtes Fleisch durch wenig gutes Fleisch ersetzt wird – angesichts der Tatsache, dass der Fleischkonsum pro Kopf als zu hoch und der Gesundheit abträglich gilt. Auch Christian Feist findet: „Ne Currywurst muss geil sein, die muss schmecken. Aber man kann sie auf ein Ampelgelb bringen, wenn z.B. die Sauce selbst gekocht oder statt sie mit Pommes mit einem Vollkornbrötchen serviert wird.“ Sollte der Altkanzler dann auch mal probieren.
Claas Möller | redaktion@regiomanager.de

Info

Betriebsgastronomie – Optionen für kleinere Unternehmen

Ghost Kitchens: Extern vom Caterer gekochtes Essen wird angeliefert; eventuell kleiner Gastraum

ICook & Chill: Extern zubereitete Lebensmittel werden schnell heruntergekühlt und dann schonend wieder erwärmt; eventuell Ausgabetheke und kleiner Gastraum – geht schon mit einer Halbtagskraft

Tiefkühlanbieter: Personal- und Flächeneinsatz im Unternehmen ähnlich wie bei Cook & Chill, ernährungsphysiologische Qualität geringer

Bewirtschaftete Kühlschränke/Smart Fridges z.B. für Speisen, die dampfgegart werden können

Kioske („Deli“) mit diversen (gesunden) Snack-Produkten für zwischendurch

Warenautomaten – gesundheitsförderliche Angebote meist schwierig zu integrieren

Gutscheinsysteme zur Einlösung in Restaurants in der Nähe

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Fotostrecke

Koch und Foodblogger Michael Loitz

Gesoca-Gründer Christian Feist

Theresa Geisel, Vereinsvorsitzende Food & Health

Professorin Carolyn Hutter, Duale Hochschule Baden Württemberg

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