„Geht nach Berlin!“, würde Professor Gerrit Heinemann, Leiter des eWeb Research Center an der Hochschule Niederrhein, gründungswilligen NRWlern, die in der digitalen Wirtschaft durchstarten möchten, am liebsten raten. Nicht ohne Grund gilt die Bundeshauptstadt mit ihrer überdurchschnittlich lebendigen Gründerszene als Mekka der digitalen Start-ups. „Es ist tatsächlich zu beobachten, dass sich die digitale Wirtschaft in Berlin ballt, und das hat sicherlich mehrere Gründe.“ Zum einen sei die Stadt bei jungen Menschen grundsätzlich in und übe somit eine gewisse Anziehungskraft aus. Eine gute Infrastruktur und bezahlbare Büroräume würden ebenfalls eine Rolle spielen. „Ich denke, viele Gründer gesellen sich lieber zu einer Kohorte, anstatt allein und ohne regelmäßigen Austausch ihr Unternehmen zu entwickeln.“
Dass Berlin bei digitalen Start-ups besonders beliebt ist, belegt das im Dezember veröffentlichte Wachstums-Ranking des Onlinemagazins Gründerszene, in dem die wachstumsstärksten jungen Digitalunternehmen aus Deutschland ausgezeichnet wurden. Der Großteil der 67 aufgeführten Unternehmen ist in der Spree-Metropole ansässig – darunter auch die Firmen auf den ersten drei Plätzen. „Berlin ist als Stadt ein Magnet für junge Leute aus aller Welt. Das Leben ist einigermaßen bezahlbar, man trifft kluge Leute und hat Spaß. Dadurch haben wir hier eine unglaublich dynamische Start-up-Szene, die wächst und gedeiht“, erklärt Gründerszene-Chefredakteur Frank Schmiechen.
Gründe sind aber nicht ausschließlich emotionaler Natur: „Das größte Problem ist oftmals die Finanzierung. In NRW ist man letztendlich auf die Sparkassen angewiesen, doch die agieren mehr als risikoscheu. Gründungswillige mit guten Ideen laufen sich die Hacken ab – in der Regel ohne Erfolg“, meint Gerrit Heinemann, der laut NRW-Landesregierung zu den 101 führenden digitalen Köpfen des Landes zählt. „Geeignete Kapitalgeber sitzen eher in Berlin, wo die Chance auf eine Wagnisfinanzierung viel größer ist.“ Aus diesem Grund hätten sich auch schon einige seiner gründungswilligen Studenten schweren Herzens von ihrer nordrhein-westfälischen Heimat getrennt, um mit ihren Ideen nach Berlin zu ziehen.
Digitale Kräfte bündeln
Die Weichen für die Zukunft der Digitalen Wirtschaft in NRW müssten aber schon an den Hochschulen gestellt werden. „Wir brauchen einen Universitätsstandort ähnlich wie die Stanford University im Silicon Valley, der die digitalen Kräfte bündelt.“ Schon jetzt habe das Bundesland sehr gute Universitäten, die in einzelnen Bereichen hervorragend aufgestellt sind. „Diese Einzelaspekte müsste man an einem Standort stärker zusammenführen. Hier müsste sich die Politik die Uni mit dem größten Potenzial greifen und entsprechend aufpumpen.“ Damit könnte NRW dann auch gegenüber Berlin punkten. „Neben der fachlichen Ausbildung brauchen wir Start-up-Zentren, die Infrastrukturen bereitstellen.“ Solche Gründerzentren finde man heute auf der ganzen Welt, bisher aber nicht in NRW.
Dass die Digitale Wirtschaft eine große Bedeutung für die Hauptstadt hat, belegt auch eine Studie der Volkswirte der Investitionsbank Berlin (IBB): Demnach ist in der Zeit zwischen 2008 und 2013 jeder achte neue Job in Berlin in einem Internetunternehmen geschaffen worden. Insgesamt wurden hier 58.692 Beschäftigte in der Digitalen Wirtschaft gezählt; die Beschäftigtenzahl hat seit 2008 um 44 Prozent zugenommen. Zum Vergleich: In Köln waren es knapp 32, in Hamburg rund 20 und in Düsseldorf 19,5 Prozent. Dortmund (-0,2 Prozent) und München (-8,1 Prozent) verzeichneten sogar einen Rückgang der Beschäftigung in der Digitalen Wirtschaft in diesem Zeitraum.
„Es wird schwer sein, das spezifische Berliner Biotop nachzuahmen. Jede Region in Deutschland muss ihren eigenen Kern bewahren, sich auf ihre Stärken besinnen und damit punkten“, sagt Frank Schmiechen. „Ich kann mir gut vorstellen, dass es durch vielfältige Unterstützung von Start-ups und jungen Digitalunternehmen in anderen Regionen auch klappen kann. Außerhalb von Berlin kann man sich außerdem besser auf die Arbeit konzentrieren.“ Es gebe viele Möglichkeiten, die dazu beitragen könnten, die digitale Start-up-Szene voranzubringen: „Man kann zum Beispiel Büroflächen zur Verfügung stellen, Anbindung an die bestehende Firmen-Infrastruktur der Region schaffen und junge Leute an wirtschaftliches, digitales Denken heranführen. Schöne Aufgaben für die Politik vor Ort. Wie wäre es mit Projekten in Schulen und Universitäten? Gesprächsreihen, Diskussionen mit Start-up-Gründern? Macht es jungen Gründern leicht, ihre Ideen umzusetzen. Weniger Bürokratie, mal raus aus den Amtsstuben.“
NRW will sich als
Digitalstandort profilieren
Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat sich bereits mit der Frage beschäftigt, wie sich NRW als führender Digitalstandort profilieren könnte. „Mit der Initiative ‚Digitale Wirtschaft NRW‘ und der Berufung eines zugehörigen Beauftragten hat der NRW-Wirtschaftsminister Garrelt Duin dem Thema einen sehr hohen Stellenwert gegeben“, sagt Professor Tobias Kollmann, Beauftragter für Digitale Wirtschaft NRW. „Über unsere Strategie mit den zugehörigen Maßnahmen haben wir schnell und überlegt ein Förderprogramm von 42 Millionen Euro speziell für die Digitale Wirtschaft aufgelegt und im Landeshaushalt verankert. Damit ist NRW politisch führend in Deutschland.“
Dass Berlin bei der Gründung digitaler Unternehmen derzeit die Nase vorn hat, sei keine geplante politische Leistung gewesen: „Die Start-up-Szene hat sich selbst für Berlin begeistern können und die ersten erfolgreichen Protagonisten haben dann weitere angezogen. Führend waren hier sicherlich die Samwer-Brüder, die sich für die Hauptstadt als Standort für Rocket Internet entschieden haben, obwohl sie aus Köln stammen und sich hier auch längst eine stabile Gründer-Szene entwickelt hat.“
Das oft angeführte Argument, dass es in Berlin bezahlbare Programmierer und günstigen Wohnraum gibt, lässt der Inhaber des Lehrstuhls für E-Entrepreneurship an der Universität Duisburg-Essen nicht gelten: „Nichts, was es in NRW nicht auch gibt, aber vielleicht haben der internationale Hauptstadt-Bonus und die allgemeine Kreativ-Szene besonders dazu beigetragen, dass die Stadt auch die digitalen Gründer angezogen hat. Wobei ich fest davon überzeugt bin, dass zum Beispiel Düsseldorf und Köln ebenso attraktiv sind.“
Kollmann weist zudem darauf hin, dass im bevölkerungsreichsten Bundesland sehr wohl erfolgreiche Digitalunternehmen ansässig sind. „Wir haben in ganz NRW, besonders aber in der Rhein- und Ruhrschiene, zahlreiche junge Start-ups für die Digitale Wirtschaft. Vielleicht stehen sie mit ihren eher B2B-orientierten Geschäftsmodellen nicht so im Scheinwerferlicht wie die B2C-Kollegen in Berlin. Was am Ende substanzieller sein wird, ist aber noch nicht entschieden.“ Kollmann erinnert daran, dass mit auxmoney.com beispielsweise das größte FinTech-Start-up aus Düsseldorf kommt; an gleicher Stelle habe man mit Trivago einen der erfolgreichsten Exits der Szene beobachten können. Zudem gebe es mit Employour in Bochum die führende Plattform für die Vermittlung von Absolventen und Praktikanten, während mit hitmeister.de einer der führenden Online-Retailer in Köln ansässig sei. „Das Problem ist aber eben, dass wir dabei nicht von Start-ups aus NRW sprechen, sondern von welchen aus Köln, Düsseldorf, Bochum und so weiter. Flächenmäßig gleich, wird in Berlin aber eben nur von einer Stadt gesprochen.“
Am Mittelstand andocken
Der Vorteil von NRW werde gerade für die Start-ups deutlich, die mit ihren Geschäftsmodellen direkt und unmittelbar im B2B-Bereich an den starken Mittelstand und die große Industrie andocken wollen. Die könne Berlin nicht bieten. Eine Gründung solcher Start-ups in NRW habe sofort Vertriebs- und Kooperationsvorteile.
„Ich glaube, dass uns der ständige Vergleich zwischen Berlin, Hamburg, München und Köln oder Düsseldorf am Ende für die Digitale Wirtschaft in Deutschland nicht weiterbringen wird. Niemand sollte einem guten Gründer mit einer guten Idee irgendwelche Vorschriften machen, wo er sein Start-up für die Digitale Wirtschaft gründen möchte oder sollte. Wichtig ist, dass er es überhaupt macht“, sagt Kollmann. Denn international gesehen gehe es nicht um einzelne Standorte, sondern um die Gesamtkraft der Digitalen Wirtschaft aus Deutschland. Jeder Standort könne dabei besondere Vorteile für eine bestimmte Zielgruppe von Gründern haben. Jessica Hellmann | redaktion@regiomanager.de
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