Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Deutsche und niederländische Firmen im Grenzgebiet scheinen sich diese Frage gestellt und beantwortet zu haben: Nötig ist es nicht. Ging der Trend vor zehn bis 15 Jahren stark dahin, nach China oder Indien zu expandieren, blicken Unternehmer in den Euregio-Gebieten seit einigen Jahren ins nahe Nachbarland, ziehen von Roermond lieber nach Schwalmtal statt nach Schanghai. „Vor allem niederländische Firmen eröffnen Dependancen jenseits der Grenze“, sagt Wolfram Lasseur, zuständig für den Geschäftsbereich „Internationales“ an der Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittlerer Niederrhein – und das, obwohl die bürokratischen Hürden für Gründer in Deutschland deutlich höher seien als für Deutsche in den Niederlanden: „Wer hier eine GmbH eintragen lassen will, benötigt eine Gewerbeanmeldung und muss zum Notar sowie zum Amtsgericht. In den Niederlanden geht er einmal zur Kamer van Koophandel und das wars.“ Nichtsdestotrotz seien zwischen Kleve und Köln 450 niederländische Unternehmen im Handelsregister eingetragen.
Vor allem für Logistikunternehmen sei die hohe Autobahndichte speziell in Nordrhein-Westfalen höchst attraktiv, meint Andy Dritty, Geschäftsführer der Euregio Rhein-Maas-Nord, und ergänzt: „Auch die gute Zusammenarbeit der hervorragend ans Straßen- und Schienennetz angebundenen Häfen in Duisburg, Düsseldorf/Neuss, Krefeld und Wesel mit den niederländischen Häfen in Antwerpen, Rotterdam und Amsterdam lockt Logistiker nach Deutschland.“ Ganz abgesehen von der rein räumlichen Nähe und den – bei allen Unterschieden – kulturellen Gemeinsamkeiten der beiden Länder.
Und täglich pendelt der Arbeitnehmer
Sind es bei Unternehmern tendenziell Niederländer, die nach Deutschland kommen, stellt sich die Situation bei den Arbeitnehmern anders dar: Laut einer gemeinsamen Studie des Centraal Bureau voor de Statistiek und des LandesbetriebsInformation und Technik NRW aus dem Jahr 2015 pendelten 2012 täglich 19.700 Deutsche (von insgesamt 27,5 Millionen Arbeitnehmern) vor allem aus den grenznahen Gebieten ins Nachbarland. Allein im Kreis Kleve machten sich jeden Morgen bis zu 3.000 Menschen auf den Weg zur Arbeit in den Niederlanden – dabei sind Niederländer, die ihren Wohnsitz in Deutschland haben, aber weiterhin in ihrem Mutterland arbeiten, noch nicht eingerechnet. Letzteres scheint ein attraktives Modell zu sein, das täglich 16.000 Niederländer im Jahr 2012 gelebt haben. Dies dürfte auch den niedrigeren Mieten und Immobilienkaufpreisen im deutschen Privatwohnsektor geschuldet sein. Im Gegenzug pendelten 2012 täglich 5.100 Niederländer (von 6,9 Millionen Arbeitnehmern) und 3.400 in den Niederlanden wohnende Deutsche zur Arbeit nach Deutschland. Sie lockten vor allem die Jobs in der schon erwähnten Logistikbranche.
Logistik, Pflege und die Bürokratie
Neben der Logistik befindet sich derzeit ein weiteres großes Wirtschaftsfeld im Aufstieg und wird nach Ansicht von Andy Dritty in den kommenden Jahren immer wichtiger werden: der Pflegesektor. „In den Niederlanden gibt es in der Altenpflege gerade große Einsparungen auf nationaler Ebene. Viele Fachkräfte verlieren dadurch ihren Job. Auf der anderen Seite können wir in Deutschland kaum die Stellen besetzen, so groß ist die Nachfrage nach Pflegekräften.“ Logisch, dass der deutsche Arbeitsmarkt niederländische Pfleger anzieht.
Das Interesse ist groß, sowohl Nachfrage als auch Angebot sind da – einzig bei der Umsetzung hapert es immer wieder. Vor allem in Deutschland: „Während es in den Niederlanden vergleichsweise einfach ist und stärker am Arbeitgeber hängt, ob ein deutscher Abschluss anerkannt wird, sind in Deutschland besonders die staatlich geprüften Berufe wie Erzieher, Krankenpfleger oder Physiotherapeut stark reglementiert“, sagt Andy Dritty. „Ihre Abschlüsse zumindest zum Teil anerkennen zu lassen kann eine ziemliche bürokratische Hürde sein, die jeder individuell nehmen muss.“ Weil sich viele Verbände und Initiativen, u.a. die Euregio Rhein-Maas-Nord oder die Euregio Rhein-Waal mit Sitz in Kleve, für einen Abbau eben dieser Bürokratie einsetzen, werde es aber seit Jahren immer einfacher, Abschlüsse in Deutschland anerkennen zu lassen. In der freien Wirtschaft sei das von vornherein kaum ein Problem. Hier entscheide jeder Chef selbst, ob er den Bewerber für qualifiziert erachtet. Besonders Sprachkenntnisse des jeweiligen Nachbarlands sind gefragt.
Die Sache mit den Sprachkenntnissen
In eben diesem Bereich jedoch verschiebt sich gerade einiges. Sprechen ältere Niederländer vor allem im Grenzgebiet fast durchgängig gut Deutsch, lernen Jugendliche die Sprache immer seltener in der Schule. „Englisch ist in den Lehrplänen zwischenzeitlich zunehmend wichtiger geworden“, erklärt Dritty. Doch es gebe Hoffnung: Vor allem in den Grenzregionen sei die Lobby für Deutschunterricht in Kommunalpolitik und Wirtschaft stark und speziell Berufskollegs hätten zunehmend Spielraum, Deutsch wieder vermehrt anzubieten. Auch in Deutschland gebe es einen Trend zur niederländischen Sprache, sagt Dritty: „Die Volkshochschul-Kurse im Land sind gut besucht, etwa 150.000 Deutsche entlang der Grenze lernen derzeit Niederländisch.“ Tendenz steigend. „Das ist ein starkes Signal dafür, dass Deutschland sich dem niederländischen Markt immer mehr öffnet“, so Dritty. Je besser die Sprachkenntnisse, desto einfacher die Zusammenarbeit.
Eine weitere Stellschraube für eine bessere Zusammenarbeit stellt – ganz pragmatisch – der Nahverkehr dar. „Da, wo es ein gutes Netzwerk im grenzübergreifenden ÖPNV gibt, sind die Pendlerströme auch größer“, sagt Dritty. Die Euregios setzen sich dafür ein, dass Schwachstellen beseitigt werden, und verhandeln mit den jeweiligen Verkehrsunternehmen. Euregio-Tickets etwa, wie sie der Aachener Verkehrsverbund (AVV) für den Verkehr zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden anbiete, seien Musterbeispiele für einfachen Grenzverkehr.
Gute Perspektiven für die nächste Generation
Trotz aller genannten Hindernisse sieht Andy Dritty für die Zukunft gute Perspektiven auf dem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt. „Ich habe sehr positive Erwartungen. Arbeitnehmer der nächsten Generation werden auf der jeweils anderen Seite der Grenze gute Chancen haben, einen Job zu finden.“ Er verweist auf eigene Initiativen der Euregio Rhein-Maas-Nord wie etwa den Jobroboter, eine Online-Plattform, auf der Arbeitsangebote hüben wie drüben aufgeführt sind. Um Unsicherheiten abzubauen und individuelle Fragen klären zu können, bieten sowohl die Euregio Rhein-Maas-Nord in Mönchengladbach als auch die Euregio Rhein-Waal in Kleve regelmäßige Sprechstunden für Grenzpendler an. Zusätzlich hat zum 1. Januar in Mönchengladbach der sogenannte Grenzinfopunkt eröffnet, in dem zwei Euregio-Mitarbeiter Grenzpendler täglich informieren. Auch die IHKs veranstalten Beratertage sowie Wirtschaftsforen, bei denen sich Gründer und Grenzpendler über rechtliche Formalitäten und Chancen in der Zusammenarbeit informieren können. Die IHK Mittlerer Niederrhein entwickelt zudem gerade einen „Verhandlungsführer“, eine Broschüre für Unternehmen, die aufzeigt, wie sich interkulturelle Unterschiede im Geschäftsalltag umschiffen oder sogar zum Vorteil nutzen lassen. Linda Schreiber | redaktion@niederrhein-manager.de
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