RM: Herr Professor Kühl, welche Rolle spielt Macht heutzutage in Unternehmen?
Professor Dr. Stefan Kühl: Macht kommt in jeder sozialen Beziehung vor – also auch in Organisationen. Es ist ein Phänomen, das man in Firmen tagtäglich antrifft. In der Managementrhetorik wird Macht jedoch mehr und mehr als etwas Heikles gesehen, was überwunden werden muss. Gerade im Management wird die Ausübung von Macht oft tabuisiert. Denn nach Max Weber wird Macht als die Möglichkeit definiert, den eigenen Willen auch gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen.
RM: Wie definieren Sie denn Macht?
Professor Dr. Stefan Kühl: Entkleidet man den Machtbegriff von negativen Konnotationen, dann drückt er die Fähigkeit aus, bei anderen ein Verhalten zu erzeugen, das sie spontan nicht
angenommen hätten.
RM: Das klingt dennoch nach Manipulation …
Professor Dr. Stefan Kühl: Macht ist stets wechselseitig. Eine Person kann die eigenen Auffassungen nur dann durchsetzen, wenn eine andere Person oder Personengruppe bereit ist, sich mit dieser in eine Beziehung einzulassen. Eine Abteilungsleiterin kann beispielsweise nur so lange Weisungen erteilen, wie ihre Mitarbeitenden sich diesen Weisungen unterwerfen. Ein Meister kann nur anordnen, solange der Arbeiter ihm folgt. Sobald sich eine Person der Beziehung entzieht – etwa durch Kündigung –, ist die Austauschbeziehung und damit auch das Machtverhältnis zu Ende. Schon gewisse Verweigerungen, wie die, Überstunden zu leisten, kann den Meister in Bedrängnis bringen. So wird er seinen Leuten eine Kompensation, eine Gefälligkeit anbieten müssen. Aus einer Machtbeziehung ziehen also letztlich immer beide Seiten etwas – auch wenn dies selbstverständlich nicht bedeutet, dass es sich um einen fairen oder gerechten Austauschprozess handeln muss.
RM: In den Unternehmen brechen zunehmend die Hierarchien weg. Bedeutet das nicht auch weniger Macht für die Führungskräfte?
Professor Dr. Stefan Kühl: Macht und Hierarchie müssen begrifflich auseinandergehalten werden. Hierarchie ist die Zuweisung formaler Machtquellen. Man darf Anweisungen geben, und die Angewiesenen zeigen eine hohe Folgebereitschaft. Es gibt in Organisationen jenseits dieser formalen Macht aber noch weitere wichtige Machtquellen: Expertenwissen, der Zugang zu wichtigen Kunden oder die Kontrolle informaler Kommunikationswege. Nicht selten sind diese Machtquellen in Organisationen wichtiger als die Hierarchie.
RM: Und welche Funktion hat die Hierarchie dann noch?
Professor Dr. Stefan Kühl: Hierarchie besitzt eine doppelte Funktion: zum einen die Möglichkeit zum Aufstieg im Organigramm. Dies ist etwas, was viele Mitarbeitenden motiviert. Wenn Hierarchien abgebaut werden, sind solche Aufstiegswege deutlich eingeschränkt und Karrierechancen gehen verloren. Zum anderen bedeutet Hierarchie die Auflösung von Entscheidungsblockaden durch den Chef.
RM: Insbesondere viele Start-ups setzen auf Demokratie und Partizipation. Immer wieder hört man aber, dass es hinter den Kulissen häufig ganz anders zugeht. Handelt es sich hier um eine moderne Inszenierung von Macht, die quasi den misslungenen antiautoritären Bestrebungen der 68er-Generation gleichkommt? Wie bewerten Sie das?
Professor Dr. Stefan Kühl: Ja, das ist durchaus vergleichbar. Es gab in den 1970ern die Vorstellung, dass durch breit angelegte Partizipation vernünftige Argumente sich schon durchsetzen und Machtkämpfe vermieden würden. Der Effekt war aber: Gerade weil es damals keine Hierarchien gab, zeigten sich heftige Machtkämpfe. Es gibt im Moment jedoch viele, die den Traum von der Reduzierung von Macht weiterträumen. Mit Begriffen wie Soziokratie und Holacracy rutscht die Debatte erneut in dieses naive Verständnis von Macht. Da muss man Warnhinweise in Großbuchstaben draufschreiben! Denn Machtspiele lassen sich verändern, aber Macht verschwindet niemals aus einer Organisation. Für mich gehört der Einsatz von Macht – im Sinne der Organisation – zur Professionalität der Verantwortlichen.
RM: Vor diesem Hintergrund ist die gerade viel beschworene Agilität, wo Führungskräfte Macht abgeben müssen, im Prinzip doch widersinnig …
Professor Dr. Stefan Kühl: Unter Agilität oder – wie man es bis vor Kurzem auch nannte – Postbürokratie werden drei Entwicklungen propagiert: Die Entformalisierung der Prozesse, der Abbau der Hierarchieebenen und die Auflösung von Bereichsgrenzen. Dies bedroht die Stellung des mittleren Managements, keineswegs aber die Macht im Topmanagement. Das wird vielfach übersehen. Unsere Forschung über agile Vorreiterunternehmen zeigt, dass dort die Organisationsspitze nicht entmachtet wird. Die mittlere Leitungsebene verliert allerdings an Einfluss. Provokant zugespitzt formuliert heißt das, dass agile Unternehmen häufig eine Zentralisierung der Macht erleben, weil die mittlere Ebene an Einfluss verliert.
RM: Wie können die Führungskräfte der mittleren Ebene ihre Macht sichern?
Professor Dr. Stefan Kühl: Es geht eher darum, sich vom ausschließlichen Machtgedanken ein Stück weit zu distanzieren. Wichtig neben Macht ist das Vertrauen zu anderen Beteiligten im Change sowie die Verständigung mit anderen Interessen. Macht alleine funktioniert nicht. Aber auch ausschließliches Vertrauen oder nur Verständigung ist nicht der richtige Weg. Wer nur auf seine Macht setzt oder auf das Vertrauen in andere Personen oder auf die Kraft eines sachlichen Dialogs, übersieht, dass bei Kooperationen stets alle drei Dimensionen relevant sind. Deshalb muss man sich eine Situation sehr genau daraufhin ansehen, welcher Aspekt gerade wichtig ist. Das ist immer wieder die Macht, kann aber stattdessen das Vertrauen sein und ist nicht selten die Verständigung. Wir nennen dieses Führen mit Macht, Vertrauen und Verständigung laterale Führung. Es handelt sich um eine Form der Führungsarbeit, die ohne Weisungsbefugnis auskommt. Und anders als bei klassischen Führungsstilen wird nicht hierarchisch von oben nach unten geführt, sondern auf einer Ebene gearbeitet.
RM: Welche Rolle spielt Macht konkret in Veränderungsprozessen?
Professor Dr. Stefan Kühl: Gerade hier besitzt Macht weiterhin eine wichtige Funktion. Denn es ist sinnvoll, dass die Mächtigen qua ihrer Rolle in die Vorlage gehen und damit Blockaden aufbrechen.
Petra Walther | redaktion@regiomanager.de
Teilen: