Omikron hat wie in einer Simulation vorgeführt, wie sich Fachkräftemangel auf das tägliche Leben auswirken könnte: Bäckereien machten schon mittags zu, Restaurants kamen mit reduzierten Öffnungszeiten aus dem Lockdown – oder gar nicht mehr. Online-Bestellungen verzögerten sich, es dauerte länger, bis wieder frisches Geld im Bankautomaten war, oder der öffentliche Nahverkehr wurde ausgedünnt. In ähnlicher Weise kann der sich verschärfende Fachkräftemangel die Wirtschaft lähmen. Ende 2022 waren in Deutschland rund zwei Millionen Stellen unbesetzt, was nach Schätzungen der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) rund 100 Milliarden Euro entgangenem Wertschöpfungspotenzial gleichkommt. Über die Hälfte aller Unternehmen stuft den Fachkräftemangel heute als größtes Geschäftsrisiko ein. Er zieht sich durch alle Branchen. Gesundheits- und Sozialdienstleister haben mit die größten Schwierigkeiten, offene Stellen zu besetzen. 71 Prozent von ihnen geben an, damit Probleme zu haben. Bei den Herstellern von Spitzen- und Hochtechnologie sind es je 63 Prozent, bei Investitionsgüterproduzenten 65 Prozent.
Ältere halten und gewinnen
Die Gründe dafür sind seit Langem bekannt. Die in den 60er-Jahren geborenen Kohorten werden ihr Arbeitsleben zwischen 2025 und 2035 beenden; auf das Jahrzehnt dieser sogenannten „Babyboomer“ folgte der „Pillenknick“. Weit weniger Menschen kamen zur Welt – der Tiefpunkt war 2011 erreicht. Dieses dramatische Missverhältnis bringt die Rentenkassen in die Bredouille und bedroht die Wirtschaft als Ganzes. Drastisch zeigt das der „Altersquotient“, das Verhältnis zwischen Rentnern und Menschen im Erwerbsalter (20–64). Vor 20 Jahren lag er bei 28, vor zehn Jahren mussten 100 Menschen im Erwerbsalter bereits 34 Rentenbezieher ernähren. Derzeit liegt der Altersquotient bei 38 und steigt weiter. Um gegenzusteuern, wird das Renteneintrittsalter schrittweise erhöht. Ab 2035 liegt es für alle bei 67 Jahren. Dies bremst den Anstieg des Altersquotienten ab: Statt „ungebremst“ bei 53 im Jahr 2035 liegt er so „nur“ bei 46 – um dann weiter zu steigen. Dr. Stefan Wolf, Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, hat im vergangenen Spätsommer vorgeschlagen, das Renteneintrittsalter weiter anzuheben bis auf 70. Damit ließe sich der Altersquotient bis 2035 stabil halten. Wer aber aus gesundheitlichen Gründen gar nicht bis 70 durchhält, müsste dann Rentenabschläge hinnehmen. Klar ist: Die Älteren müssen länger ran. „Wertvoll wie Gold“ sind sie für den Arbeitsmarkt, schrieb kürzlich der „Spiegel“. Noch vor wenigen Jahren wurden Bewerbungen über 60-Jähriger vielfach gleich aussortiert; jetzt versucht man, sie zu halten oder zu gewinnen. Heute ist schon jeder Zweite zwischen 60 und 64 sozialversicherungspflichtig beschäftigt – je nach Zählweise ein globaler Spitzenwert. 2000 war es erst jeder Neunte.
Mehr Flexibilität für
Kinderbetreuung
Neben den Älteren würden auch mehr erwerbstätige Frauen dem Arbeitsmarkt helfen: „Weniger Teilzeit wäre doch schon mal ein Anfang“, schlug kürzlich die Präsidentin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, in der FAZ vor. „Inzwischen sind 72 Prozent der Frauen bei uns berufstätig, da haben wir riesige Fortschritte gemacht.“ 1991 waren es erst 57 Prozent. „Aber bei der Frage, wie viele Stunden sie arbeiten, liegen wir EU-weit nur im unteren Mittelfeld. Meine Anregung an die Unternehmer wäre: Fragen Sie doch mal im eigenen Betrieb gezielt diese Frauen, was zu tun wäre, damit sie länger arbeiten können. Vielleicht genügt es ja schon, dass es morgens eine halbe Stunde später losgeht, dann ist die Kita schon offen.“ Dr. Achim Dercks, stellvertretender DIHK-Hauptgeschäftsführer, schlägt in dieselbe Kerbe: „Wir müssen die Betreuungsinfrastruktur und -angebote weiter ausbauen und flexibilisieren“, so Dr. Dercks. „Die Betreuungslücke für unter Dreijährige liegt immer noch bei fast 270.000. Würden die aktuell in Teilzeit beschäftigten Frauen ihre Arbeitszeit um durchschnittlich zwei Stunden pro Woche erhöhen, entspräche das rechnerisch etwa 500.000 zusätzlichen Ganztagsstellen.“ Auch Andrea Nahles wirbt für Flexibilität: „Nehmen Sie meinen Büroleiter, der auch mal früher geht, die Kinder abholt und sich abends noch mal an den Computer setzt. Da müssen wir individuellere Lösungen finden. Das betrifft übrigens auch die Älteren.“
Frühverrentung neu bewerten
Die sogenannte „Rente mit 63“ wurde ursprünglich für Beschäftigte mit mindestens 45 Rentenversicherungsjahren eingeführt. Statt der erwarteten 200.000 Menschen jährlich nahmen sie aber 260.000 in Anspruch. Inzwischen wurde sie zwar auf 64 heraufgesetzt, aber „sie hat falsche Anreize gesetzt und verstärkt Fachkräfteengpässe“, kritisiert DIHK-Vize-Hauptgeschäftsführer Dr. Dercks. Auf diesem Weg verabschieden sich z.B. gut abgesicherte Fachkräfte in der Chemie- und Metallindustrie in den Ruhestand, weniger die viel zitierten Dachdecker, denen man die Kraxelei auf dem Dach mit über 60 nicht mehr zumuten wollte. Auch die Abschaffung der Zuverdienstgrenze bei vorzeitigem Rentenbezug könnte dazu beitragen, dass Ältere länger aktiv bleiben. Manche Ökonomen befürchten aber einen neuen Frühverrentungsboom durch die neue Regelung.
Zuwanderung intelligent fördern
Frauen und Ältere stärker ins Erwerbsleben zu integrieren reicht nicht aus. Andrea Nahles hält eine Zuwanderung von 400.000 Arbeitskräften pro Jahr für notwendig, um das Erwerbspersonenpotenzial stabil zu halten. Mittlerweile wird in einer ganzen Reihe von Ländern für den deutschen Arbeitsmarkt geworben. Mit begrenztem Erfolg: 2022 standen 40.000 offenen Stellen in Deutschland ganze 656 im Ausland rekrutierte Pflegekräfte gegenüber. Hindernisse u.a.: Deutsch gilt als nicht sehr sexy, ebenso wie die deutsche Bürokratie. Vieles aber können auch Unternehmen selbst in die Hand nehmen. Eine große Düsseldorfer Architektenfirma rekrutiert seit geraumer Zeit in Spanien. Ein Gerüstbau-Unternehmen aus dem Münsterland ermöglichte zwei Flüchtlingen aus Afrika die Ausbildung und half bei vielen Schwierigkeiten im Alltag, etwa durch die Anmietung von Wohnraum. Mittlerweile ist in fast allen Bundesländern die Quote neuer Azubis ohne deutsche Staatsangehörigkeit oder mit Fluchthintergrund höher als die der Deutschen, so eine Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung.
Arbeitgeber-Attraktivität stärken
Im Wettbewerb um Arbeitskräfte muss man sich heute ins Zeug legen. Zeitungsinserate funktionieren überhaupt nicht mehr, findet der Chef des Gerüstbaubetriebs. Besser funktioniere es über Facebook, Instagram, auch LinkedIn und über die Stellenbörse Indeed. Attraktive Unternehmen erhalten mehr qualifizierte Bewerbungen und können Stellen schneller besetzen. Eine gute Employer Brand ist daher Voraussetzung für eine erfolgreiche Personalgewinnung. Und ohne attraktive Mitarbeiter-Benefits sehen Arbeitgeber mittlerweile alt aus, etwa mit Angeboten zur Gesundheitsförderung, Mitgliedschaft im Fitnessstudio, Firmenwagen oder fahrrad, Fortbildungen, Essensangeboten oder gutscheinen. Wichtiger Baustein auch hier: Flexibilität – Stichwort Work-Life-Balance – und immer wieder auch Wege, die die Kinderbetreuung ermöglichen.
Claas Möller | redaktion@regiomanager.de
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