Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war das heutige Ruhrgebiet eine agrarisch strukturierte und dünn besiedelte Region. Entlang des Hellweges lagen die verschlafenen Handels- und Ackerbürgerstädte Duisburg, Mülheim, Essen, Bochum und Dortmund. Deren Pulsschlag sollte sich rasend schnell und komplett verändern: Der Aufstieg des Ruhrgebietes zu einem der größten industriellen Ballungsräume Europas war eng mit der Kohle-, Eisen- und Stahlgewinnung verbunden. Diese wirtschaftliche Entwicklung setzte zunächst im Ruhrtal und in der Hellwegzone ein und entfaltete sich bis nordwärts über die Emscherzone bis zur Lipperegion. Erste Impulse zur Steinkohlengewinnung gab es an der unteren und mittleren Ruhr, im Dortmund-Hörder und im Schwerter Raum wurden die Brennstoffe für die Essen und Schmieden sowie für die Salzsiederei gewonnen. Die kleinen Hellwegstädte wuchsen von 1850 bis zur Jahrhundertwende zu Großstädten heran, und in der Emscher- und Lippezone entstanden neue Industriestädte wie Oberhausen und Gelsenkirchen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden im Raum Oberhausen aber auch die Eisenhütten: St. Antony, die Eisenhütte zur Gutenhoffnung und Neu-Essen. Sie bildeten die vorindustrielle Basis für die Eisen- und Stahlindustrie. Heute ist Deutschland mit einer jährlichen Produktion von knapp 43 Millionen Tonnen Rohstahl (2014) der siebtgrößte Stahlhersteller weltweit, sowie der größte in der Europäischen Union.
600 lagerhaltende Stahlhändler
„Der Bundesverband Deutscher Stahlhandel (BDS) in Düsseldorf zählt rund 400 Mitglieder. Deutschlandweit existieren aber insgesamt etwa 600 lagerhaltende Stahlhändler und Stahl-Service-Händler“, weiß Jörg Feger, Bereichsleiter Research im BDS. Nordrhein-Westfalen spielt aufgrund seiner überdurchschnittlich vielen Zentrallager und Stahl-Service-Center in der Region Rhein-Ruhr eine deutschlandweit wichtige Rolle. Die Unternehmen sorgen, in den einzelnen Teilbereichen des Stahlvertriebs zwischen 30 und über 66 Prozent variierend, für 48 Prozent des Gesamtabsatzes bei Walzstahlfertigerzeugnissen. „Der Absatz von Walzstahlfertigerzeugnissen lag im vergangenen Jahr bei 10,8 Millionen Tonnen und damit ein Prozent über dem Wert von 2015. Und für die ersten fünf Monate 2017 konnten wir vier Prozent mehr abgesetzte Tonnage feststellen als in der gleichen Vorjahresperiode.“ Grund für den leichten Aufwärtstrend sei unter anderem die gute Auftragslage bei den Abnehmern, etwa in der Baubranche. Dabei nutzen die Stahldistributoren mehrere Wege der Materialbeschaffung. Die großen Abnehmer erhalten ihre Materialien direkt bei den Werken oder sie sind Mitglied in einem der großen Einkaufverbünde. Das Einkaufsbüro Deutscher Eisenhändler GmbH (E/D/E) in Wuppertal und die Nordwest Handel AG in Dortmund verfügen über Abteilungen für den Stahlhandel.
Handelsaktivitäten der Hersteller
Ein Großteil der weltweiten Stahlnachfrage entfällt auf kleine und mittelgroße Abnehmer, die Mindestbestellmengen für den Direktvertrieb vom Stahlwerk nicht verarbeiten können. Diese Unternehmen bedienen sich für ihre Beschaffung des Stahlhandels. „Um mit dem Gros seiner Endkunden in direktem Kontakt zu stehen, ist es sinnvoll, eigene Handelsaktivitäten zu betreiben. Aus diesem Grund unterhalten etwa die Gesellschaften des Salzgitter-Konzerns seit ihren Anfängen eigene Vertriebsorganisationen, die heute im Geschäftsbereich Handel konzentriert sind“, heißt es dazu bei einem Branchenriesen. Dazu wird ein Netzwerk von Vollsortiment-Handelslägern in Europa vorgehalten, in denen Kunden verschiedene Stahlprodukte des Konzerns, aber auch anderer Stahlhersteller beziehen und anarbeiten lassen können. Ein internationales Tradinggeschäft unterstützt Kunden dabei, geeignete Produzenten und Logistiklösungen zu finden. Schließlich eröffnet eine digitale Vermarktungsplattform des internetbasierten Stahlhandels neue Wege.
Vierfache Quoten
Aktuell sind digitale Strukturen zukunftsträchtig, sie machen den wirtschaftlichen Wandel, kurzum: das „Neue“ aus. An eine gute Zukunft werden viele Menschen aber erst glauben, wenn der Fortschritt bei ihnen ankommt. So war das auch bei der letzten industriellen Revolution, dem „Maschinenzeitalter“ der Zechen und Stahlwerke. Waren 1850 gerade einmal 12.000 Bergleute in den Zechen beschäftigt, vervierfachte sich diese Quote in den nächsten 20 Jahren. Im Jahre 1900 förderten im Ruhrgebiet 163 Zechen mit 220.000 Beschäftigten 60.000 Tonnen Steinkohle. Beeindruckend auch die Roheisenerzeugung, die im Ruhrgebiet zwischen 1850 und 1913 von 11.500 Tonnen auf 8,3 Millionen Tonnen wuchs. Mit Krupp in Essen, dem Bochumer Verein, der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks-und Hütten AG in Bochum, der Dortmunder Union, dem Hörder Verein oder Hoesch entstanden in wenigen Jahren Großkonzerne, die von der Erz- und Kohleförderung über die Roheisen-und Rohstahlproduktion bis hin zum Waggon- und Stahlbau alle Produktionsstufen umfassten und zehntausende Mitarbeiter beschäftigten. Die Bevölkerungszahlen explodierten zwischen 1818 und dem Beginn des 20. Jahrhunderts von 220.000 auf knapp 2,6 Millionen Einwohner. „Die Entstehung des Ruhrgebiets als montanindustrielles Ballungszentrum war eine der markantesten Erscheinungen der Industrialisierung in Deutschland, ja in Europa“, beschreibt Dr. Karl-Peter Ellerbrock. „1899 überholte das Ruhrgebiet in der Roheisenproduktion Frankreich und 1925 England, das Mutterland der Industrialisierung“, analysiert der Direktor des Westfälischen Wirtschaftsarchivs in Dortmund. Ausschlaggebend dafür seien Kopplungseffekte, die vom Eisenbahnbau als „leading sector“ ausgegangen seien. Für Ellerbrock steht fest: „Die Nachfrage nach Kohle als Energieträger und Stahl für den Schienen- und Waggonbau schien unstillbar.“
Namen mit Klang
Dabei waren die Vertriebswege, aber auch die Nähe zur Kohle überaus wichtig. Das war auch der Grund, warum sich die großen Stahlunternehmen im Ruhrgebiet, in unmittelbarer Nähe der Zechen, ansiedelten. Der Aufstieg Essens zur Leitstadt der Montanregion, der Ausbau der Gussstahlfabrik zum wichtigsten deutschen Zentrum für die Herstellung besonders hochwertiger Stähle, ist untrennbar mit Alfred Krupp verbunden. August Thyssen kam mit 25 Jahren nach Duisburg. 1871 nahm das Bandeisen-Walzwerk „Thyssen & Co.“ die Produktion auf; die Keimzelle für den späteren Stahlriesen Thyssen war gelegt. Der Boom dauerte wenige Jahrzehnte, der ehemals überwiegend agrarische Raum entwickelte sich zu einer schwerindustriell ausgeprägten Industrielandschaft. Kohle, Eisen und Stahl dominierten bis in die 50er-Jahre. Wenig später kam das Zechensterben, kam die Zeit des „Strukturwandels“. 2018 stellen Bund und Land ihre Subventionen für den Bergbau ein, die traditionsreiche Ära der Kohle im Ruhrgebiet neigt sich damit dem Ende zu. Kultur und Kletterwand statt Förderturm und Hochofen? Natürlich nicht: Mittlerweile macht der Dienstleistungssektor mit mehr als zwei Dritteln der Beschäftigten den höchsten Anteil im Ruhrgebiet aus. Technologie- und Gründerzentren schießen aus dem Boden, sie entwickeln Produkte der Hochtechnologie, die dem Ruhrgebiet ein neues Image als zukunftsorientierte Region verschaffen sollen. Dort, wo einst Stahl gekocht wurde, residieren nun Firmen aus der IT-Branche, geblieben sind aber auch Produzenten und insbesondere der Handel mit Stahlerzeugnissen hat seinen Stellenwert. Mit einem Anteil von knapp 40 Prozent ist Nordrhein-Westfalen das Bundesland mit der größten Stahlerzeugung und viele der mit Stahl verbundenen Handelshäuser haben ihren Ursprung nicht vergessen und beliefern die Welt vom Ruhrgebiet aus.
Reinhold Häken | redaktion@regiomanager.de
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