Wie aus dem aktuellen Fachkräftereport 2023/24 der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) hervorgeht, kann derzeit jeder zweite Betrieb hierzulande offene Stellen zumindest teilweise nicht besetzen. Gerade in wichtigen Zukunftsbranchen sei die Personalnot dabei besonders groß. „Die Fachkräftesituation bleibt sehr kritisch“, urteilt der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Dr. Achim Dercks. „Das gilt nicht nur für die direkt betroffenen Betriebe, sondern auch für unseren Wirtschaftsstandort insgesamt.“
Viele offene Stellen
Die Personalengpässe beträfen die Breite der Wirtschaft und zögen sich durch nahezu alle Branchen und Berufe, berichtet Dercks. Über die Hälfte aller 22.000 befragten Betriebe stuft den Fachkräftemangel heute als größtes Geschäftsrisiko ein. „Einige Branchen sprechen nicht nur von Lücken bei Fachkräften, sondern von einem allgemeinen Mangel an Arbeitskräften“, sagt Dercks. In der Gesamtwirtschaft blieben im vergangenen Jahr rund 1,8 Millionen Stellen unbesetzt, wodurch rechnerisch mehr als 90 Milliarden Euro an Wertschöpfung verloren gegangen seien, zeigt Dercks auf und veranschaulicht: „Das entspricht mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts.“ Nur ein Fünftel der suchenden Betriebe hat laut Dercks kein Problem, offene Stellen zu besetzen. „Das bedeutet im Umkehrschluss, dass acht von zehn Betrieben bei der akuten Rekrutierung von Mitarbeitern mehr oder weniger große Herausforderungen bewältigen müssen oder sogar erfolgslos bleiben.“
Dem DIHK-Fachkräftereport zufolge fehlen auf dem Arbeitsmarkt am häufigsten beruflich Qualifizierte mit dualer Ausbildung. Denn 55 Prozent der Unternehmen, die vergeblich nach Beschäftigten suchen, würden gern dual ausgebildete Praktikerinnen und Praktiker einstellen. 16 Prozent der Unternehmen können eigenen Angaben zufolge aufgrund des Arbeits- und Fachkräftemangels weniger in Deutschland investieren. Das betrifft allen voran die Industrie (22 Prozent), insbesondere den Werkzeugmaschinenbau (32 Prozent) und den Kraftfahrzeugbau (31 Prozent), aber auch die Medizintechnik (27 Prozent) und die Hersteller von Datenverarbeitungsgeräten sowie elektrischen und optischen Erzeugnissen (22 Prozent). „Das sind alarmierende Werte. Denn die Engpässe gefährden unseren Erfolg in wichtigen Schlüsseltechnologien“, warnt der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer. „Bei wichtigen Zukunftsaufgaben wie Klimaneutralität, Digitalisierung, Elektromobilität und Gesundheitsversorgung können wir nur schnell vorankommen, wenn die Fachkräfte dafür da sind. Deshalb müssen wir an dieser Stelle mehr tun, um den Wohlstand des ganzen Landes über den Tag hinaus abzusichern.“ Bereits mehr als jedes vierte Industrieunternehmen befürchtet aufgrund der Personalengpässe einen Verlust von Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit.
Ältere halten und gewinnen
Die Gründe für den Fachkräftemangel sind seit Langem bekannt. Die in den 60er-Jahren geborenen Kohorten werden ihr Arbeitsleben zwischen 2025 und 2035 beenden; auf das Jahrzehnt dieser sogenannten „Babyboomer“ folgte der „Pillenknick“. Weit weniger Menschen kamen zur Welt – der Tiefpunkt war 2011 erreicht. Dieses dramatische Missverhältnis bringt die Rentenkassen in die Bredouille und bedroht die Wirtschaft als Ganzes. Drastisch demonstriert dies der „Altersquotient“, also das Verhältnis zwischen Rentnern und Menschen im Erwerbsalter (20 bis 64). Vor 20 Jahren lag er bei 28, vor zehn Jahren mussten 100 Menschen im Erwerbsalter bereits 34 Rentenbezieher ernähren. Derzeit liegt der Altersquotient bei 38 und steigt weiter. Um gegenzusteuern, wird das Renteneintrittsalter schrittweise erhöht. Ab 2035 liegt es für alle bei 67 Jahren. Dies bremst den Anstieg des Altersquotienten ab: Statt „ungebremst“ bei 53 im Jahr 2035 liegt er so „nur“ bei 46 – um dann weiter zu steigen. Klar ist: Die Älteren müssen länger ran. Noch vor wenigen Jahren wurden Bewerbungen über 60-Jähriger vielfach gleich aussortiert; jetzt versucht man, sie zu halten oder zu gewinnen. Heute ist schon jeder Zweite zwischen 60 und 64 sozialversicherungspflichtig beschäftigt – je nach Zählweise ein globaler Spitzenwert. Im Jahr 2000 war es erst jeder Neunte.
Neben älteren Arbeitnehmern würden auch mehr erwerbstätige Frauen dem Arbeitsmarkt helfen. So würde es bereits einen Unterschied machen, wenn von den bereits berufstätigen Frauen mehr von Teilzeit- in Vollzeitbeschäftigungen wechseln würden. „Wir müssen die Betreuungsinfrastruktur und -angebote weiter ausbauen und flexibilisieren“, fordert auch Achim Dercks von der DIHK. „Die Betreuungslücke für unter Dreijährige liegt immer noch bei fast 270.000. Würden die aktuell in Teilzeit beschäftigten Frauen ihre Arbeitszeit um durchschnittlich zwei Stunden pro Woche erhöhen, entspräche das rechnerisch etwa 500.000 zusätzlichen Ganztagsstellen.“
Die sogenannte „Rente mit 63“ wurde ursprünglich für Beschäftigte mit mindestens 45 Rentenversicherungsjahren eingeführt. Statt der erwarteten 200.000 Menschen jährlich nahmen sie aber 260.000 in Anspruch. Inzwischen wurde sie zwar auf 64 heraufgesetzt, aber „sie hat falsche Anreize gesetzt und verstärkt Fachkräfteengpässe“, kritisiert Dercks. Auf diesem Weg verabschieden sich z.B. gut abgesicherte Fachkräfte in der Chemie- und Metallindustrie in den Ruhestand, weniger die viel zitierten Dachdecker, denen man die Kraxelei auf dem Dach mit über 60 nicht mehr zumuten wollte. Auch die Abschaffung der Zuverdienstgrenze bei vorzeitigem Rentenbezug könnte dazu beitragen, dass Ältere länger aktiv bleiben. Manche Ökonomen befürchten jedoch einen neuen Frühverrentungsboom durch diese Regelung.
Gute Rahmenbedingungen für Zuwanderung schaffen
Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, benötigen die Betriebe Dercks’ Auffassung nach in jedem Fall geeignete Rahmenbedingungen. Neben mehr Beschäftigung von Frauen und Älteren, die allein nicht ausreichend ist, zählen hier die Intensivierung der Aus- und Weiterbildung, die Integration von Arbeitslosen, innovative und flexible Arbeitszeitmodelle sowie Produktivitätssteigerungen und Automatisierung zu den Optionen. Ein wichtiger Pfeiler ist natürlich auch die Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland. Für 55 Prozent der Umfrageteilnehmer des DIHK-Fachkräftereports kommt die Einstellung von Menschen aus Drittstaaten in Betracht. Dabei wünschen sich 62 Prozent dieser Unternehmen, dass die Spracherwerbsangebote im In- bzw. Ausland ausgebaut werden, während 54 Prozent auf eine Vereinfachung bzw. Beschleunigung der Verwaltungsverfahren hoffen. „Monatelange Wartezeiten auf einen Visumtermin, in der Post stecken gebliebene Unterlagen, fehlende Ansprechpartner in der Ausländerbehörde – all das muss der Vergangenheit angehören“, fordert Dercks. Die DIHK plädiert dafür, das gesamte Verwaltungsverfahren der Zuwanderung zu digitalisieren. Zudem solle es in jedem Bundesland eine zentrale Ausländerbehörde für die Fachkräfteeinwanderung geben.
Vieles aber können auch Unternehmen selbst in die Hand nehmen. So rekrutiert beispielsweise ein großes Düsseldorfer Architekturbüro seit geraumer Zeit in Spanien. Ein Gerüstbau-Unternehmen aus dem Münsterland ermöglichte zwei Flüchtlingen aus Afrika die Ausbildung und half bei vielen Schwierigkeiten im Alltag, etwa durch die Anmietung von Wohnraum. Mittlerweile ist einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge in fast allen Bundesländern die Quote neuer Azubis ohne deutsche Staatsangehörigkeit oder mit Fluchthintergrund höher als die der Deutschen.
Im Wettbewerb um Arbeitskräfte muss man sich heute ins Zeug legen. Zeitungsinserate funktionieren überhaupt nicht mehr, findet der Geschäftsführer des Gerüstbaubetriebs. Besser funktioniere es über Facebook, Instagram, LinkedIn und über die Stellenbörse Indeed. Attraktive Unternehmen erhalten mehr qualifizierte Bewerbungen und können Stellen schneller besetzen. Ein gutes Employer Branding ist daher Voraussetzung für eine erfolgreiche Personalgewinnung. Und ohne attraktive Mitarbeiter-Benefits sehen Arbeitgeber mittlerweile alt aus, etwa mit Angeboten zur Gesundheitsförderung, Mitgliedschaft im Fitnessstudio, Firmenwagen oder fahrrad, Fortbildungen, Essensangeboten und Vielem mehr. Wichtiger Baustein auch hier: Flexibilität – Stichwort Work-Life-Balance – und immer wieder auch Wege, die die Kinderbetreuung ermöglichen.
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