Kolumne

KOLUMNE Parallelwelten: Überakademisierung? Wirklich?

Studieren zu viele Jugendliche zulasten der beruflichen Ausbildung, fragt sich Simone Harland.

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von Simone Harland 14.09.2022
(© saksit – stock.adobe.com) | Simone Harland

Gibt es in Deutschland eine „Überakademisierung“, wie Hans Peter Wollseifer, der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, vor Kurzem angesichts des Fachkräftemangels im Handwerk nahegelegt hat? Ist eine Bildungswende zur stärkeren Förderung der beruflichen Bildung notwendig, um mehr junge Menschen für Handwerksberufe zu begeistern? Muss ein Gesetz geschaffen werden, dass die Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Bildung festlegt, wie Wollseifer fordert?
Ja, könnte man auf den ersten Blick annehmen, nicht zuletzt, weil wir alle wissen, wie schwierig es heute ist, auf die Schnelle einen Handwerker zu finden. Ja, könnte man auch meinen, wenn man die Zahlen für neu geschlossene Ausbildungsverträge von 2019 bis 2021 vergleicht: Begannen 2019 noch rund 513.000 Jugendliche eine Ausbildung, waren es 2021 nur rund 467.000 – über das Jahr 2020 gar nicht zu reden, da waren es noch weniger. Doch die Jahre 2020 und 2021 waren wegen der Corona-Pandemie sehr speziell. Betriebe scheuten sich, aufgrund der unsicheren wirtschaftlichen Lage Auszubildende einzustellen. Für 2022, so der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung, Professor Dr. Friedrich Hubert Esser, wird wegen der bislang noch nicht absehbaren Folgen des russischen Kriegs gegen die Ukraine auf die Wirtschaft vermutlich noch längst nicht alles beim Alten sein. Nichtsdestotrotz können natürlich zahlreiche Ausbildungsstellen nicht besetzt werden.
Aber: Vergleichen wir die Zahl der Auszubildenden doch mal mit der der Studienanfänger. Diese liegt ebenfalls bei rund 500.000 jährlich und stagniert damit laut dem nationalen Bildungsbericht von 2022. Von den Neu-Studierenden schrieben sich zudem etwas mehr als die Hälfte an einer Universität ein, die anderen 47 Prozent jedoch an einer Fachhochschule, an der die Lehre praktischer und anwendungsorientierter ausgerichtet ist. Vor allem Letzteres sollten die Betriebe wertschätzen. Schließlich werden in den nächsten Jahren viele Spezialisten aus den geburtenstarken Jahren in Rente gehen, weshalb Nachwuchs hier ebenfalls dringend erforderlich ist.
Vielleicht sollten die Ausbildungsbetriebe sich auch ein wenig an die eigene Nase fassen, statt nach gesetzlichen Regelungen zu rufen, wenn sie junge Menschen zu einer Ausbildung direkt nach der Schule motivieren wollen.
Denn erstens stellen viele Unternehmen bevorzugt Jugendliche mit Abitur ein. Schüler und Schülerinnen mittlerer Bildungsgänge haben es weitaus schwerer, einen Ausbildungsplatz zu finden – von den Jugendlichen mit Hauptschulabschluss gar nicht zu reden. Sicher haben Betriebe ihre Erfahrungen gemacht, auf deren Basis sie handeln. Doch insbesondere Jugendliche mit niedrigeren Bildungsabschlüssen als dem Abitur und der mittleren Reife per se aus dem Bewerberpool auszuschließen, ist der falsche Weg.
Als Zweites wäre da die Ausbildungsvergütung. Im August 2022 berichtete das Statistische Bundesamt, dass 2021 mehr als die Hälfte, nämlich 51 Prozent aller jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren, finanziell von ihren Eltern abhängig waren – gegenüber 40 Prozent im Jahr 1991. Es stimmt: Lehrjahre sind keine Herrenjahre, doch wenn das Gehalt in der Ausbildung noch nicht einmal reicht, um ein Zimmer in einer WG und die Lebenshaltungskosten zu bezahlen, stimmt etwas nicht. Unternehmen können und sollten sich meiner Ansicht nach nicht auf eine Querfinanzierung durch Angehörige verlassen.
Drittens: Wer von Überakademisierung spricht, muss genauer hinschauen. Die Arbeitslosenquote von Menschen mit einem Universitäts- oder Fachhochschulabschluss ist die niedrigste unter allen Bevölkerungsgruppen – sogar in Corona-Zeiten. Hochschulabsolventen dürften laut Bundesagentur für Arbeit „im Allgemeinen wieder gute Chancen auf einen erfolgreichen Start ins Erwerbsleben“ haben. Diese Arbeitskräfte werden also ebenfalls gebraucht. Auch von mittelständischen Betrieben im Handwerk.
Vielleicht ist es an der Zeit, dass Unternehmen bei der Suche nach Auszubildenden noch erfinderischer werden als bisher: Jugendlichen etwa das Hineinschnuppern in den Betrieb außerhalb von Praktika erleichtern oder auch jungen Frauen den Einstieg ins Handwerk vorurteilslos ermöglichen. Und meiner Ansicht nach bedeutsam: Die Ausbilder müssen Jugendliche nicht in Watte packen, doch sie sollten ihnen wertschätzend begegnen. Denn Respekt kann nie eine Einbahnstraße sein.

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