Produktion

Wettbewerbsverzerrung oder Rettung?

Energieintensive Branchen sehen globale Nachteile und fordern vehement die Umsetzung des Industriestrom-Preises. Wirtschaftswissenschaftler kritisieren „Brückenstrom“ als „grundsätzlich falsch“.

Avatar
von Reinhold Häken 15.01.2024
(© ­­­deagreez − stock.adobe.com)

„Die Bundesregierung entlastet das produzierende Gewerbe massiv bei den Stromkosten“, kommentiert Bundeskanzler Scholz die Ergebnisse der monatelangen Industriestrom-Debatte. Das milliardenschwere Paket sieht unter anderem vor, dass die Stromsteuer für alle Unternehmen des produzierenden Gewerbes von derzeit 1,537 Cent pro Kilowattstunde auf den europäischen Mindestwert von 0,05 Cent gesenkt wird. Für 350 Unternehmen soll es zusätzliche Hilfen geben. Was in der Berliner Koalition für gegenseitiges Schulterklopfen sorgt, findet auch Kritik. Zwar zeigen sich die meisten Wirtschaftsverbände und Branchenvertreter zufrieden über das Entgegenkommen der Politik, im Detail werden aber auch Bedenken laut. So moniert der Zentralverband des Deutschen Handwerks sein Unverständnis, dass sich das Paket der Bundesregierung ausschließlich an das produzierende Gewerbe richtet und Handel, Dienstleistungsbranche und Verbraucher außen vor bleiben. 

„Teuer und unfair“

Wirtschaftswissenschaftler kritisieren einen Industriestrompreis als grundsätzlich falsch. „Er ist teuer und unfair gegenüber nicht privilegierten Unternehmen und Haushalten, die alle hohe Strompreise zahlen müssen“, sagte Claudia Kemfert, Energieexpertin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Eine Deckelung des Industriestrompreises schaffe falsche Anreize und zementiere die Nutzung fossiler Energien „Die Entscheidung der Bundesregierung wird die Deindustrialisierung in Deutschland beschleunigen“, ist auch Marcel Fratzscher überzeugt. Für den Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ist die Entscheidung zum Industriestrom ein „schwerwiegender Fehler“. „Alte Strukturen werden zementiert, neue Ideen und Innovationen gebremst und es werden mehr gute Arbeitsplätze verloren gehen“, heißt seine drastische Einschätzung.
Geradezu poetisch wird es dagegen, wenn Wirtschaftsminister Habeck den „Brückenstrom“ beschreibt: „Der massive Ausbau von erneuerbaren Energien wird mit klugen Instrumenten für den direkten Zugang der Industrie zu billigem grünem Strom gekoppelt. Wir können aber nicht warten, bis die Langfristmaßnahmen greifen. Wir müssen die Brücke, die wir mit den Energiepreisbremsen gebaut haben, verlängern. Deshalb ist ein Brückenstrompreis notwendig. Konkret sichern wir so gute Arbeitsplätze, komplexe Wertschöpfungsketten und hochinnovative Unternehmen, die sich gerade transformieren.“
„Eine Brücke braucht Pfeiler“, nimmt der Bundesverband Erneuerbare Energien den plakativen Vergleich auf. Eine „Strompreisbrücke“ helfe aber nur insoweit, als dass das „Ufer“, also die ausreichende Verfügbarkeit kostengünstigen Erneuerbaren-Energien-Stroms beschleunigt erreicht werde. „Negative Folgen für den Strommarkt und nachteilige Auswirkungen auf die Dekarbonisierung und Flexibilisierung von Industrieunternehmen gilt es unbedingt zu vermeiden“, fordert der Verband, Empfängerkreis und Dauer der Maßnahme eng zu begrenzen. 

Pfeiler der Brücke

ifo-Präsident Clemens Fuest spricht sich gegen einen Industriestrompreis aus. „Die Idee des Brückenstrompreises ist nicht tragfähig“, urteilt er. „Politik für den Industriestandort Deutschland sollte nicht an Strukturen festhalten, die nicht mehr wettbewerbsfähig sind“, ergänzt Fuest. Gleichzeitig warnt er, es sei „leichtsinnig, Deindustrialisierung schulterzuckend hinzunehmen“. Der Deutsche Mittelstandsbund (DMB) begrüßt grundsätzlich, Unternehmen in der Übergangszeit der Energiewende zu unterstützen.  „Schluss mit immer neuen Subventionen und harten Markteingriffen. Über 99 Prozent aller Unternehmen in Deutschland werden hier sträflich benachteiligt“, spricht sich Vorstand Marc S. Tenbieg gegen die Subventionierung aber für „echte Transformationsanreize für alle Unternehmen“ aus. 

„Senkung überfällig“

Die Absenkung der Stromsteuer für das produzierende Gewerbe sei „eine überfällige Entscheidung“, kommentiert Peter Adrian. Der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) bezweifelt allerdings, dass das Paket am Ende ausreicht, um für die gesamte Industrie wettbewerbsfähige Strompreise zu sichern. Für Kerstin Andreae, Vorsitzende der BDEW-Hauptgeschäftsführung, ist die Entscheidung für den Industriestrom ein „Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland“.  „Es wäre konsequenter gewesen, die Stromsteuer-Senkung nicht allein auf das produzierende Gewerbe zu beschränken“, schränkt sie ein. Auch der Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK) fordert einen Industriestrompreis, um zu verhindern, dass die energieintensive Industrie in Deutschland ins kostengünstigere Ausland abwandert.  Bei den Stromkosten, die Deutschland aktuell und in den kommenden Jahren erwartet, können energieintensive Unternehmen schlicht nicht wirtschaften“, so Hauptgeschäftsführer Christian Seyfert.

„Planungssicherheit“

„Punktuelle Verbesserungen“ sieht die Wirtschaftsvereinigung Stahl. Geschäftsführerin Kerstin Maria Rippel lobt „die Verstetigung und den Bürokratieabbau beim Spitzenausgleich sowie die Verlängerung der Strompreiskompensation bei gleichzeitigem Wegfall des Selbstbehaltes“. Das schaffe für die Unternehmen immerhin ein Plus an Planungssicherheit. „Das erklärte Ziel einer Strompreis-Entlastung für energieintensive Unternehmen im scharfen internationalen Wettbewerb wirddamit nicht erreicht“, ist sie aber überzeugt.  

Auch die besonders energieintensiven Branchen machen deutlich, dass sie sich mehr erhofft hatten. Das Paket löse nur einen kleinen Teil der Probleme, es fehlten zusätzliche Entlastungen für mehr Wettbewerbsfähigkeit, sagt der Hauptgeschäftsführer des Chemieverbandes VCI, Wolfgang Große Entrup.

„Absurde Subvention“

Marie-Christine Ostermann, Präsidentin der Familienunternehmer warnt: „Was auf den ersten Blick Entlastung von den hohen Energiepreisen verspricht, erweist sich auf den zweiten Blick als riesige Wettbewerbsverzerrung zulasten des Mittelstands. Es ist doch absurd, erst staatlich den Unternehmen immer mehr Lasten aufzubürden und diese dann großzügig wieder runter zu subventionieren“, fordert sie die Ausweitung des Stromangebots. Während die Wirtschaftsverbände den Industriestrom und seine Segnungen eher positiv werten, haben führende Ökonomen aus unterschiedlichen Instituten im aktuellen Herbstgutachten die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung ungewöhnlich hart kritisiert. Mit Inflation, hohen Zinsen und flauer Weltkonjunktur sei das Umfeld ohnehin schwierig. „Hinzu kommt, dass die Politik der Bundesregierung Unternehmen und Haushalte massiv verunsichert“, heißt es im Gutachten. „Zum Kanon widersprüchlicher Maßnahmen würde auch ein Industriestrompreis zählen“, warnen die Ökonomen“ wenige Tage vor der politischen Entscheidung. Beklagt wird die Verzerrung des Wettbewerbs: „Die Stromnachfrage würde steigen, und der Strompreis für alle anderen Verbraucher auch“.

Teilen:

Fotostrecke

Peter Adrian (© DIHK)

Clemens Fuest (© ifo)

Kerstin Maria Rippel

Christian Seyfert

Marc S. Tenbieg (© Jochen Rolfes)

Newsletter abonnieren

Newsletter abonnieren und Brancheninfos erhalten

Datenschutz*