Kolumne

Parallelwelten: Fast wahr ist auch falsch

Julia Dombrowski beschäftigt sich mit kognitiven Dissonanzen und dem Umstand, dass wir uns gern die Welt schönreden.

Avatar
von Regiomanager 01.02.2017
Julia Dombrowski

Manches halten Menschen über lange Zeit erstaunlich gut aus: zu viel Fast Food, zu wenig Bewegung, Helene Fischer. Manches halten Menschen erstaunlich schlecht aus, sogar über einen kurzen Zeitraum, z.B. einen Zahnarztbohrer im Mund. Oder Widersprüche, die zu sogenannten kognitiven Dissonanzen führen. Die menschliche Psyche ist darauf ausgelegt, eigene Wahrheiten, Überzeugungen, Emotionen und Einstellungen im Einklang halten zu wollen. Wenn Wissen und Wahrnehmung nicht übereinstimmen, entsteht normalerweise Stress. Meistens akzeptieren wir nicht, wenn Behauptungen und Realität klar auseinanderklaffen. Sagt jemand: „Justin Bieber macht ganz vorzügliche klassische Jazz-Musik“, halten wir ihn für einen Spinner. Problem gelöst. Eine schwedische Studie hat vor einigen Jahren erforscht, welche anderen Strategien des Bewusstseins die als unangenehm empfundene kognitive Dissonanz auslöst. Dafür wurden Probanden gebeten, einen Fragebogen zum Thema Telefonüberwachung auszufüllen. Der Fragebogen war so manipuliert, dass die Antworten stehen blieben, die Fragen aber im Nachhinein ins Gegenteil verkehrt wurden. Später bat man die Probanden, ihre Meinungen zu erläutern – und Überwachungsgegner wurden mit (angeblich eigenen) befürwortenden Antworten konfrontiert und vice versa. Nur sehr wenige Probanden sagten im Interview, sie müssten sich beim Ausfüllen geirrt haben, weil die Antworten keineswegs ihrer Überzeugung entsprächen. Der Großteil der Teilnehmer begann, sich ein Begründungsgeflecht zu konstruieren, mit dem sie die Antworten, die völlig konträr zu ihren Überzeugungen standen, in ihr Weltbild integrieren konnten. Entscheidend ist, von wem Widersprüche ausgehen – lässt derjenige sich gefahrlos als Spinner abstempeln? Wenn die eigene Person – wie in der schwedischen Studie – Auslöser für die Dissonanz ist, wird es schwieriger. „Ich bin ja ein Idiot“ ist bestenfalls eine selbstironische Ausnahmebehauptung. Falls es Personen und Institutionen mit Autorität, Macht oder gesellschaftlichem Einfluss sind, kann die Falschbehauptung eine ernst zu nehmende Strategie sein, die schädliche Folgen hat. Wenn Angehörige einer Regierung behaupten, bei der Amtseinführung ihres Präsidenten seien mehr Menschen gewesen als jemals zuvor bei irgendeiner anderen Amtseinführung – obwohl Bilder und Augenzeugen zweifelsfrei belegen, dass dies nicht wahr ist –, dann ist das nicht bloß eine drollig-absurde Art, sich eine eigene Realität zu schaffen. Es ist auch eine Methode, salonfähig zu machen, die Wahrnehmung von Zweiflern für ungültig zu erklären. Auf diese Weise lässt sich nach und nach etablieren, die Wahrnehmung ganzer Bevölkerungsgruppen für nur eine Spielart der Realität zu erklären. Und das funktioniert. Die kognitive Psychologie weiß, dass das Gedächtnis faul und träge ist: Ihm gefällt bereits Bekanntes besser als Neues. Einer mehrfach wahrgenommenen Behauptung schreibt es deshalb mehr Wahrheitsgehalt zu als einer frischen Aussage. Genau genommen macht sich kommerzielle Werbung dieses Prinzip seit jeher zunutze: Je öfter die Zielgruppe von der zugeschriebenen Eigenschaft eines Produkts hört oder liest, desto eher verankern sich Aussagen als Wahrheiten im Gedächtnis: „streichzart“, „probiotisch“, „mintfrisch“ – das wird schon irgendwie zum Produkt gehören, wenn es immer wieder in einem Atemzug genannt wird. Warum soll ein autoritärer Staat nicht praktizieren, was seit Jahrzehnten dabei hilft, Marmelade und Möbelpolitur zu verkaufen? Bleiben Sie kritisch. Trauen Sie Ihren eigenen Augen und Ohren. Lassen Sie Ihr Gehirn nicht denkfaul werden. Sonst wählen Sie im besten Fall das falsche Kaugummi – im schlechtesten aber Schlimmeres.Julia Dombrowski I redaktion@regiomanager.de

Teilen:

Weitere Inhalte der Serie
Newsletter abonnieren

Newsletter abonnieren und Brancheninfos erhalten

Datenschutz*