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Die „Pinocchio-Nase“ gibt es nicht

Wie geht man im Unternehmen mit Lügen um? Antworten von einem Fachmann.

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von Daniel Boss 14.03.2025
Wahr oder geflunkert? Unwahrheiten spielen auch im Wirtschaftsleben eine Rolle (© ugguggu – stock.adobe.com)

REGIO MANAGER: Herr Prof. Dr. Saller – „Du sollst nicht lügen“, so heißt es schon seit Jahrtausenden. Wir Menschen tun es trotzdem – können wir nicht anders?

Michael Saller: Lügen ist eine evolutionär entwickelte Fähigkeit. Schon kleine Kinder greifen instinktiv zur Lüge, um nicht geschimpft zu werden, wenn sie etwas angestellt haben. Im sozialen Umfeld erleichtern Unwahrheiten die Anpassung an Gruppen und können das eigene Ansehen stärken. Notlügen helfen, Konflikte zu vermeiden. Im Geschäftsleben und vielen anderen Bereichen nutzen Menschen gelegentliche Täuschungen, um sich Vorteile zu verschaffen. Lügen sind somit ein fester Bestandteil der alltäglichen Kommunikation. Allerdings haben wir die Wahl: Wir können uns dazu entscheiden, die Wahrheit zu sagen – oder zumindest unangenehmen Fragen durch Schweigen oder Ausweichen zu entgehen.

RM: Welchen Raum nimmt die Lüge, bewusst oder unbewusst, in unserem Alltag ein?

Saller: Manche Studien legen nahe, dass Menschen im Durchschnitt ein- bis zweimal pro Tag lügen. Es geistern aber auch größere Zahlen durch die Medien, teilweise bis zu 200 Lügen pro Tag. Ich persönlich halte solche Zahlen für übertrieben. Die meisten Menschen lügen selten, viele sogar gar nicht. Ob wir überhaupt ein Motiv zum Lügen haben, hängt maßgeblich vom sozialen Umfeld sowie von beruflichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen ab – nur wenige Menschen lügen aus reiner Freude oder ohne erkennbaren Grund.

RM: Wie erkenne ich Lügen auch als Laie?

Saller: Lüge ist nicht gleich Lüge. Es gibt unter anderem das Lügenmärchen, das Parallelereignis, die Andeutung, die einen falschen Schluss nahelegt, das Verschweigen, das Nicht-Erinnern oder die Eröffnung eines Nebenkriegsschauplatzes. Wissenschaftler und Praktiker haben sich viele Gedanken darüber gemacht, ob und wie eine Lüge zu entlarven ist. Die sogenannte inhaltsorientierte Glaubhaftigkeitsanalyse beispielsweise geht davon aus, dass es Realitäts- bzw. Glaubhaftigkeitsmerkmale gibt, die auf die Wahrheit hindeuten. Ein Kriterium für eine wahre Aussage kann beispielsweise sein, dass jemand sehr detailliert über ein Geschehen berichtet, oder dass der Erzähler nicht über die intellektuelle und sprachliche Kompetenz verfügt, die vorgetragene Geschichte zu erfinden. Andererseits gibt es keine nachweislichen Lügenmerkmale, sondern nur Warnhinweise. Es gibt sie also nicht, die Nase des Pinocchio – das eine Merkmal, das eindeutig darauf hinweist, dass jemand lügt.

RM: Sie befassen sich vor allem aus juristischer Perspektive mit diesem Thema. Welche Relevanz hat die Lüge Ihrer Meinung nach in ökonomischer Hinsicht?

Saller: Im Wirtschaftsleben spielen Unwahrheiten oftmals bei Vertragsverhandlungen eine bedeutende Rolle. In meinen Workshops für Unternehmen zur Verhandlungsführung und Informationsgewinnung vermittle ich deshalb Strategien, um mehr Informationen vom Verhandlungspartner zu erhalten und dessen Aussagen kritisch zu hinterfragen. Denn Wissen ist Macht – je mehr ich über mein Gegenüber weiß, desto besser kann ich verhandeln. Typische Fragen, auf die ich in einer Verhandlung idealerweise ehrliche Antworten erhalten möchte, sind etwa: Gibt es feste Deadlines, und wie flexibel ist mein Verhandlungspartner wirklich? Verfolgt er womöglich verborgene Motive, die er nicht offenlegt? Hat er realistische Alternativen, oder ist er auf eine Einigung mit mir angewiesen? Wer profitiert von einer Nichteinigung?

RM: Mit welchen Formen der Unwahrheit haben Unternehmerinnen und Unternehmer besonders zu kämpfen?

Saller: Oft sind Unwahrheiten im Wirtschaftsleben keine Märchen, sondern Verschweigen oder Andeutungen, die einen falschen Schluss nahelegen. Eine Vertriebschefin sagte mir beispielsweise einmal auf die Frage nach ihrer Teilnahme an einem Treffen in Deutschland, sie sei an diesem Tag in einer anderen Stadt im Ausland gewesen. Was sie jedoch verschwieg, war, dass sie sich über das Internet zu dem besagten Treffen dazugeschaltet hatte. Durch ihre Aussage, sie sei am Tag des Treffens in einer anderen Stadt gewesen, wollte sie den Eindruck erwecken, dass sie gar nicht an dem Treffen teilgenommen haben konnte. Ist so etwas überhaupt eine Lüge? Die befragte Vertriebschefin meinte: nein. Ihrer Ansicht nach war es nicht ihre Pflicht, selbst zur Aufklärung beizutragen und mehr Erklärungen zu liefern, als von ihr verlangt wurden.

RM: Was empfehlen Sie Geschäftsführungen und Personalabteilungen im Umgang mit diesem Thema?

Saller: Das primäre Ziel eines Gesprächs sollte darin bestehen, möglichst viele belastbare Informationen zu gewinnen. Lügen zu erkennen, gelingt nur manchmal – häufig bewegen sich Aussagen im Graubereich. Dafür sollten Geschäftsführer die Dos and Don’ts des aktiven Zuhörens sowie verschiedene Fragetechniken beherrschen. Zwar kann jeder offene und geschlossene Fragen stellen, doch nur wenige nutzen gezielt Übertreibungsfragen, emotionsbezogene Fragen oder Überprüfungsfragen. Und sehr viele unterschätzen, wie entscheidend es ist, „besser zuzuhören“.

RM: Wie sollte man sich verhalten, wenn man das Gegenüber beim Lügen ertappt – ob es nun ein Mitarbeiter, Lieferant oder Kunde ist? Haben Sie ein Patentrezept?

Saller: Kürzlich fragte mich der Leiter einer Einkaufsabteilung, wie er einen Lieferanten zu einem Geständnis bringen könne, nachdem er ihn bei einer Unwahrheit ertappt hatte. Ich erklärte ihm eine Methode, die darauf abzielt, durch gezielte Fragen den Druck zu erhöhen und zum richtigen Zeitpunkt eine „goldene Brücke“ zu bauen. Ein Patentrezept ist das jedoch nicht. Ein solches Vorgehen kann zudem schnell gegen die soziale Höflichkeit verstoßen und möglicherweise verbrannte Erde hinterlassen. Deshalb empfehle ich in vielen Situationen, die Lüge einfach zur Kenntnis zu nehmen, für sich zu vermerken und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Daniel Boss | redaktion@regiomanager.de

 

Zur Person

Prof. Dr. Michael Saller, M.Jur. (Oxford) ist ordentlicher Professor für Wirtschaftsrecht an der Ernst-Abbe-University of Applied Sciences in Jena sowie Special Counsel bei einer führenden deutschen Wirtschaftskanzlei in Frankfurt. In seinem Buch „Erzähl mir alles!“ widmet er sich seinem Spezialgebiet: dem Lügen.

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Wahr oder geflunkert? Unwahrheiten spielen auch im Wirtschaftsleben eine Rolle (© ugguggu – stock.adobe.com)

„Je mehr ich über mein Gegenüber weiß, desto besser kann ich verhandeln“, sagt Experte Michael Saller. (© Saller )

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