Materialengpässe, Rohstoffknappheit, Lieferkettenprobleme, Energiekrise durch den Ukraine-Krieg, Zinswende und in der Folge: Kostenexplosionen. Der Immobiliensektor steht vor einer nie da gewesenen Bündelung von Herausforderungen. Ins Bild passt, dass der deutsche Immobilienpreisindex im zweiten Quartal 2022 auf ein neues Rekordhoch geklettert ist: auf 194,8 Punkte (Basisjahr 2010 = 100 Punkte) – nach einer Steigerung der Immobilienpreise um 8,4 Prozent im zweiten Quartal 2022 gegenüber dem Vorjahresquartal. Vor allem Wohnimmobilien trieben die Preise hoch. Sie verteuerten sich um 10,1 Prozent, Gewerbeimmobilien zu 1,9 Prozent und Büroimmobilien zu 4,1 Prozent. Allen Ambitionen zum Trotz bleibt Wohnraum knapp: Baukostensteigerungen, Verzögerungen und Stornierungen tragen dazu bei, dass der Neubau nicht mit den Planungen Schritt hält.
Stornierungen
Nach Zahlen des ifo Instituts waren im Juni 11,5 Prozent der Unternehmen im Hochbau von Stornierungen betroffen. Eine Blitzumfrage des Verbands Beratender Ingenieure (VBI) zeigt noch drastischere Einbrüche. Danach berichten 91 Prozent der teilnehmenden 233 Planungsunternehmen von Bauzeitverlängerungen. 57 Prozent der Unternehmen bleiben auf den Mehrkosten sitzen, nur 43 Prozent können sie weiterberechnen. 34 Prozent der Unternehmen verzeichnen Kündigungen öffentlicher Aufträge, bei privaten Aufträgen sind es sogar 42 Prozent. 61 Prozent der Unternehmen befürchten wirtschaftliche Auswirkungen, 15 Prozent haben sogar Angst, in eine wirtschaftliche Schieflage zu geraten; Insolvenzen werden befürchtet.
Vollbremsung
Ein ähnliches Bild ergibt eine Umfrage des Bundesverbands Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen (BFW) unter seinen etwa 1.600 Mitgliedern. 72 Prozent geben an, dass sie 44,8 Prozent der geplanten Projekte unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht mehr realisieren werden. Nur 21 Prozent der Unternehmen wollen ab 2032 an allen Planungen festhalten. „Das ist keine Delle beim Neubau, das ist die Vollbremsung einer ganzen Branche“, so BFW-Präsident Dirk Salewski. Denn es bedeutet: 50.000 bis 75.000 neue Wohnungen weniger als geplant werden fertiggestellt. Nicht ansatzweise wird darum das Ziel der Bundesregierung von jährlich 400.000 Neubauwohnungen in diesem Jahr zu erreichen sein, so der BFW. Seine Mitgliedsunternehmen realisieren etwa 50 Prozent des Wohnungsneubaus und 30 Prozent des Gewerbeneubaus in Deutschland.
„Wir haben Corona gut gemeistert“, sagt Elisabeth Gendziorra, BFW-Geschäftsführerin für Nordrhein-Westfalen. Denn während der Pandemie verschwand zwar ein Teil der deutschen Wirtschaft im Homeoffice oder hielt sich mit Kurzarbeit über Wasser. Die Bautätigkeit aber ging relativ ungestört weiter, auch wenn der Fachkräftemangel schon zu dieser Zeit ein belastender Faktor war.
BEG-Förderung
Seitdem aber sieht sich die Branche einer Fülle neuer Probleme gegenüber: explodierende Material- und Energiekosten, Rohstoffknappheit und Lieferengpässe, steigende Zinsen, aber auch das überraschende Ende der Bundesförderung für effiziente Gebäude (BEG) im Januar. „In dieser Situation können Sie kein Datum und keinen Preis mehr halten“, so Gendziorra. Sie schildert die Klemme, in der die Regisseure des Bauprozesses stecken. „Die Bauträger müssen in beide Richtungen verhandeln und dabei regelrecht einen Spagat machen: gegenüber den Handwerksunternehmen so verhandeln, dass man sich auch noch nachher in die Augen gucken kann. Und gegenüber dem Endkunden, der mehr zahlen muss.“
Gut durch die Krise kommen werden vor allem die großen, breit aufgestellten Unternehmen der Branche, glaubt BFW-NRW-Geschäftsführerin Elisabeth Gendziorra. Solche Akteure also, die z.B. durch den Bau von mehrgeschossigen und Reihenhäusern nicht nur in den großen Städten, sondern auch in den margenstärkeren Speckgürteln Rücklagen schaffen konnten. Ob die Lage sich entspannt, hängt ihrer Ansicht nach mit davon ab, ob die Gaskrise bald gelöst wird.
Vertrauensverlust
Im Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft (VdW) Rheinland Westfalen sind vor allem Wohnungsunternehmen und ‑genossenschaften organisiert. Zu ihren Aufgaben gehört es, bezahlbares Wohnen zu ermöglichen. Auch der VdW Rheinland Westfalen wurde vom Stopp der energetischen Sanierungsprogramme im Januar 2022 kalt erwischt. „Der plötzliche Stopp der BEG-Förderung zur Herstellung energieeffizienter Gebäude war für viele Wohnungsunternehmen und ‑genossenschaften ein echter Schock. Sie haben auf diese Fördermittel vertraut, sie haben Planungen auf dieser Grundlage getroffen, sie haben Vorbereitungsgutachten in Auftrag gegeben – und plötzlich galt das alles nicht mehr. Das ist ein immenser Vertrauensverlust, den aus unserer Sicht die Politik auch aufarbeiten muss“, sagt Verbandsdirektor Alexander Rychter.
„Für uns ist ganz entscheidend, dass Politik Themen zusammendenkt, nicht in Silos: auf der einen Seite Wohnungspolitikfragen, auf der anderen Seite Mobilitätspolitik oder an der dritten Stelle vielleicht die Fragen der Energiewende. Alles das läuft im Wohn- und Stadtquartier zusammen“, so Rychter. „Und aus unserer Sicht ist Politik gefordert, diese Themen auch zusammenzudenken – im Ordnungsrecht, genauso in der Förderpolitik.“
Preisberuhigung?
Joerg Utecht, Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Immobilienverband Deutschland, IVD West, glaubt, dass mit den Preisexplosionen erst einmal Schluss ist. Für das dritte und vierte Quartal rechnet er mit stagnierenden Preisen. „Einzelne Player sprechen sogar von rückläufigen Preisen, denn die Gruppe derer, die sich Immobilien leisten können, wird kleiner. Hatten wir beispielsweise im vergangenen Jahr etwa 100 Interessenten für ein Objekt, so sind es in diesem Jahr nur noch 20.“ Zahlreiche knapp kalkulierte private Immobilienfinanzierungen seien durch die steigenden Zinsen geplatzt. „Viele Menschen werden im Mietbereich hängen bleiben.“
Dem Geschäft mit neuen Immobilien steht das Segment Gebrauchtimmobilien gegenüber, das nach Utechts Einschätzung normal weiter funktioniert. „Für kleinere Immobilienmakler verengt sich der Markt allerdings angesichts der Tatsache, dass derzeit viele Bauträger und Projektentwickler auf die Pausentaste gedrückt haben. Die meisten Makler sind jedoch sowohl mit neuen wie mit gebrauchten Immobilien tätig, sodass sie keine wirklichen Einbrüche erleiden.“
Grunderwerbssteuer
Utecht weist auf die nach wie vor geringe Eigentumsquote bei Immobilien in Deutschland hin und findet, dass die Politik den Erwerb von Wohneigentum erleichtern sollte. „Das Baukindergeld war ein kurzer Impuls, aber es war befristet. Die Grunderwerbssteuer ist in vielen Bundesländern exorbitant hoch. In Nordrhein-Westfalen liegt sie z.B. bei 6,5 Prozent. Ihre Höhe ist zwar Ländersache, aber die Bundesregierung könnte über diese Stellschraube Wohneigentum stärker fördern. Immerhin steht im Koalitionsvertrag, dass der Bund sich des Themas annehmen will.“
Auftragshoch
„Es wird gerade außerordentlich viel gebaut, sowohl von privater als auch öffentlicher Hand“, sagt Damir Stipić, politischer Referent der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen. Er glaubt darum, dass die derzeitige komplexe Problemlage nur zu einer Delle in der Statistik führen wird, insbesondere bei privaten Bauvorhaben. Stipić zieht eine Parallele zur Corona-Pandemie, als sich die Befürchtungen, es würde zu einem Einbruch kommen, nicht bewahrheitet haben. Nach der ifo-Konjunkturumfrage aus dem Juli 2022 leiden 60,2 Prozent der Architekten- und Ingenieurbüros unter Fachkräftemangel. „Derzeit ist die Auftragslage sehr gut, daher werden händeringend geeignete Fachkräfte gesucht. Im Moment ist davon auszugehen, dass der berühmte Kuchen noch ein Stück größer werden wird.“
Architektinnen
Er begrüßt darum den Andrang auf die Architekturstudiengänge ausdrücklich und ganz besonders, dass viele Frauen sich dort einschreiben. „Die Branche ist noch sehr männlich dominiert. Frauen sind in Führungsposition allerdings nach wie vor unterrepräsentiert; sie machen sich weniger selbstständig. Aber: Die Architektur wird immer weiblicher.“ So liege der Anteil von Studentinnen bei den Erstsemestern in der Innenarchitektur bereits bei 90 Prozent, beim klassischen Hochbau bei immerhin 65 Prozent. Stipić ist sich sicher: „Wir werden auch in zehn oder 15 Jahren viel zu tun haben. Es geht um mehr Wohnungsbau, Bauen im Bestand, klimagerechtes Umbauen.
Der Blick auf die Architektur der Weimarer Republik zeigt, dass auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten gute Architektur entstehen kann. Trotz Stipić‘ Zuversicht könnte allerdings die derzeitige Kostenexplosion übrigens zu einer Qualitätsverschlechterung führen – insbesondere bei privaten Vorhaben. Wenn nämlich etwa Holz so teuer wird, dass man, um zu sparen, statt Holz dann doch wieder Beton verbaut.
Der überwiegend positive Blick in die Zukunft der Branchenakteure in die Zukunft spiegelt sich im „Deutsche Hypo Immobilienklima“ für August 2022: Dieser Index war seit März durchgängig rückläufig, aber stieg nach Befragung von 1.200 Immobilienexperten erstmals wieder (um 2,6 Prozent) auf einen Wert von nun 82,3 Punkten.Claas Syrt Möller
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