In Zeiten des dramatischen Fachkräftemangels in der IT klingt die Idee verlockend: Geschäftsanwendungen erstellen ohne Programmierkenntnisse. Sogenannte „Low Code“- und „No Code“-Plattformen (LC/NC) versprechen genau das. Aber ist das wirklich möglich und sinnvoll? Der Hintergrund: „Bestimmte Geschäftsprozesse und Abläufe ähneln einander, insbesondere wenn man sie branchenspezifisch betrachtet. Gleiches gilt für sich wiederholende Abläufe, beispielsweise zur Datenaufbereitung und -aggregation. Mit einzelnen Funktionsmodulen, die sich aneinanderketten lassen, kann man diese Prozesse und Prozessketten umsetzen“, erklärt Stephan M. Rossbach vom IT-Netzwerk networker NRW. Diese liefen immer nach gleichen Algorithmen ab und ließen sich sehr einfach und effizient mit Low-code-Plattformen umsetzen. „Diese Prozesse benötigen keine Entwicklungskenntnisse und können von den Fachabteilungen einfach modelliert werden. Low- und No-Code-Plattformen ermöglichten es auch Nicht-Entwicklern, automatisierte Prozesse zu gestalten“, ergänzt Rossbachs networker-Kollege Richard Seidl. Das funktioniert z.B., indem fertige Prozessschritte als Blöcke grafisch angeordnet und verbunden werden: „Aus PDF auslesen“, „E-Mail versenden“ etc. „Die Blöcke sind für Anwender und Fachleute verständlich und um die Implementierung dahinter müssen sie sich nicht kümmern“, so Seidl.
Bei RPA ist noch Luft nach oben
Die Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von Robotic Process Automation, kurz RPA. Nach Angaben von Bitkom stellt sie für immer mehr Unternehmen eine interessante Technologie mit hohem Potenzial dar, „mit der sich allerdings erst jedes zehnte Unternehmen beschäftigt hat“, wie Dr. Frank Termer vom Branchenverband erläutert. „RPA soll vorrangig Prozesse im Backoffice von Unternehmen und Institutionen automatisieren. Insbesondere adressiert RPA die Prozesse, bei denen Informationen bisher händisch von Medium zu Medium oder von System zu System übertragen werden, beispielsweise von Papierrechnungen in eine Finanzbuchhaltungssoftware. Die Notwendigkeit, eine solche Technologie überhaupt einsetzen zu müssen, liegt in einem entsprechenden Digitalisierungsdefizit in den Unternehmen.“ Denn eine Vielzahl der in Unternehmen eingesetzten Software sei veraltet. Das führe dazu, dass unterschiedliche Systeme nicht nahtlos miteinander zusammenarbeiten können. „So werden mittels RPA sogenannte Medienbrüche überbrückt und bestehende Defizite der Softwarelandschaft von Unternehmen in Bezug auf Offenheit, Vernetzung und Flexibilität ausgeglichen. So gelingt mittels RPA eine bessere Digitalisierung von Prozessen.“
Mittels NC können etwa in der Buchhaltung, im Bereich Marketing/Vertrieb oder in der HR-Abteilung Aufgaben automatisiert werden, „etwa wenn vorhandene Tabellenkalkulationen in interaktive Apps umgewandelt werden“, nennt Dr. Termer ein Beispiel. Ein No-Coder fügt demnach seine Anwendung per Mausklick aus vorkonfektionierten Bestandteilen zusammen, ohne dass er den Programmcode manuell ergänzen oder anpassen kann. „Bei LC ist das Grundprinzip, dass über eine grafische Benutzeroberfläche Applikationen per Drag-and-Drop aus vorgefertigten Bausteinen zusammengesetzt werden. Doch der Clou bei Low-Code- im Gegensatz zu No-Code-Plattformen ist, dass bestehende Bausteine mittels klassischer Codes von der Entwicklungsabteilung ergänzt und individuell angepasst werden können. Außerdem können mit Low Code auch externe Systeme und Workflows über Schnittstellen in die Plattform integriert und mit den internen Prozessen verbunden werden.“
Gefahr der Abhängigkeit
Laut Stephan M. Rossbach werden LC-Plattformen meistens im SaaS-Modell („Software as a service“) angeboten. „Dies hat den Vorteil, dass sie herstellerseitig betrieben werden und der Kunde sich auf den Umsetzungsteil konzentrieren kann.“ Nachteilig ist ihm zufolge, dass man sich mit allen Anbietern quasi in einen „Vendor lock-in“ begibt. Es werde also zunehmend schwer und kostspielig, die Plattform zu wechseln, je stärker man die Geschäftsprozesse dort abgebildet habe. Der Aufbau der meisten Plattformen ähnelt sich. „Sie bestehen aus einer Datenschicht zur Definition und Speicherung von Datenentitäten, einer Businesslogik mit Werkzeugen zur grafischen Modellierung der Abläufe inklusive Trigger und Prozessschritten und einer Präsentationsschicht zur Konfiguration einer grafischen Oberfläche, beispielsweise zur Darstellung von Daten oder Ergebnissen.“ Zusätzlich bringen die Frameworks noch diverse Module für die Einbindung externer Datenquellen und Anwendungen mit. „Beispiele sind Anbindungen an CRM- oder ERP-Systeme oder Datenbanken“, so Rossbach.
Wann bieten sich solche Lösungen an? „Wer weiß, dass ein Stück Software in einem Jahr wieder weggeschmissen wird, kann vielleicht auf einige Features oder gar auf ein vollständiges Customizing verzichten“, sagt Software-Experte Dr. Termer. „Schließlich muss nicht lange auf einen Softwarehersteller gewartet werden, der gerade keine freien Entwicklungskapazitäten hat.“ Wenn der vorgesehene Einsatzzweck nur wenig Geschäftslogik beinhalte oder sogar nur ein Prototyp sein soll, sei NC/LC sicherlich gut geeignet. Richard Seidl fasst Pro und Kontra so zusammen: „Es ist ein großer Vorteil, dass erste Ergebnisse schnell sichtbar und verfügbar sind. Somit können essenzielle Prozesse gezielt umgesetzt werden. Außerdem ist eine individuelle Software-Entwicklung im großen Umfang nicht mehr notwendig.“ Doch genau darin steckt für ihn auch der Nachteil: Sonderfälle, Details oder spezielle Schnittstellen können vielleicht nicht berücksichtigt werden – oder nur gesondert. „Generell ist die Gefahr dabei, Prozesse einfach ungesehen zu automatisieren. Dabei bietet gerade dieser Schritt noch einmal die Möglichkeit, darüber nachzudenken, ob denn der Prozess überhaupt so noch sinnvoll und effizient ist. Denn wer Mist automatisiert, erhält wieder Mist: nur schneller.“
Daniel Boss | redaktion@regiomanager.de
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