Management

Vielseitigkeit ist Trumpf

Kunststoffverarbeiter spüren nach Jahren des ungebremsten Wachstums Gegenwind. Die Stimmungslage schwankt zwischen Zuversicht und Unsicherheit.

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von Regiomanager 23.11.2020
Flaschenparade im Kunststoff-Look (Foto: ©monticellllo – stock.adobe.com)

Ganze 50 Jahre ist es her, da war das Leben noch nahezu frei von Kunststoffen; weltweit wurden nur 1,7 Millionen Tonnen pro Jahr hergestellt. Heute werden mehr als 335 Millionen Tonnen produziert und verarbeitet. Kunststoffe kommen in vielen und sehr unterschiedlichen Bereichen zum Einsatz, von der Medizin bis zur Raumfahrt, von der Einkaufstüte über Getränkeflaschen bis zu Spielzeug und Zahnbürsten: Produkte aus Kunststoff sind allgegenwärtig. Ein Leben ohne Plastik? Kaum noch vorstellbar.
Ihren Ruf verdanken Kunststoffe ihrer Vielseitigkeit. Kunststoffe machen Flugzeuge und Autos leichter und sicherer. Sie sind in der Medizin allgegenwärtig und lebenswichtig. Aus Polymeren entstehen hauchdünne Handschuhe ebenso wie Einmalspritzen, Sonden, Schläuche, Herzklappen, künstliche Hüftgelenke oder Kontaktlinsen. Kunststoffe helfen Leben zu erhalten und lebenswerter zu machen. Blutbeutel und Infusionsflaschen sind eines der geläufigsten Beispiele, an denen erkennbar wird, welche Bedeutung Plastik in der Medizin zukommt. Kunststoffe leisten entscheidende Beiträge im Bereich der Ernährung und Hygiene der Menschen. Kunststoffe sind unverzichtbarer Bestandteil des täglichen Lebens und sind in Computer, Telefone und Fernsehen, Baubedarfsartikel, technische Teilen, Konsumwaren und vielen anderen Produkten verarbeitet.

„Kunststoff“ aus Käse

Die Kunststoffbranche ist eine junge Industrie, allerdings mit Geschichte: „Nimm einen Ziegenkäse, lass ihn einen ganzen Tag sieden. Am Boden bleibt ein Stoff, der zäh und durchscheinend ist wie Horn und aussieht wie Quark“, beschreibt der bayerische Benediktinerpater Wolfgang Seidel eine Zufallsentdeckung. Das wohl älteste bekannte Rezept zur Herstellung eines „Kunststoffs“ stammt aus dem 16. Jahrhundert. 250 Jahre später rettete ein Patent zur Herstellung eines Kunststoffs auf Cellulosebasis zehntausenden Elefanten das Leben. Ein Preisausschreiben versprach demjenigen eine hohe Belohnung, der einen Ersatz für Elfenbein präsentieren konnte, aus dem bis dato die Spielkugeln des in den Staaten in Mode gekommenen Billardspiel bestanden. John Wesley Hyatt punktete mit dem wohl berühmtesten frühen Kunststoff, er erfand das Zelluloid, den ersten thermoplastische Werkstoff für die Massenproduktion.

Erfolgreiche Jahrzehnte mit Rekord-Umsätzen

Es sollte noch lange dauern, bis dessen theoretischen Grundlagen formuliert waren. Bis dahin lag die Herstellung von Kunststoffen in der Hand von Tüftlern und Erfindern, die zwar weltbewegende Erfolge feierten, aber nur auf das Prinzip „Versuch und Irrtum“ und ihre Erfahrung bauen konnten. Zelluloid und Gummi, Bakelit und Polyethylen, Melaminharz, PVC, Nylon und Teflon, aber auch Polyethylenterephtalat (PET) sind Stationen auf dem Weg in die Zeit der „Kunststoffe“. Diese Bezeichnung erfand Dr. Richard Escoles, der 1911 einen Sammelbegriff für die neuartigen, künstlich geschaffenen Materialien suchte. Erfolgreiche Jahrzehnte mit immer neuen Rekord-Umsätzen und vielen Innovationen folgten. Plastik kann mit Superlativen und genialen Einsatzmöglichkeiten punkten, hat aber auch viele Kritiker, wenn es um Einweg- und Wegwerfartikel und den Verpackungsbereich geht.

Abfälle vermeiden

Dr. Michael Zobel, Vorsitzender des Verbandes der Kunststofferzeuger in Deutschland, räumt ein, dass die Ressourceneffizienz weiter gesteigert und die Kreislaufwirtschaft über den gesamten Lebenszyklus hinweg verbessert werden muss. „Die kunststoffverarbeitende Industrie steht zum Prinzip der Produktverantwortung. Danach sind Erzeugnisse so zu konzipieren, dass Abfälle schon in der Produktion vermieden oder vermindert werden und auch die umweltverträgliche Verwertung nach dem Gebrauch des Produktes sichergestellt ist.
Größter Einsatzbereich für Kunststoffe in Europa ist das Verpackungssegment mit einem Anteil von annährend 40 Prozent an der Gesamtnachfrage, gefolgt von Bauanwendungen, dem Fahrzeugbau und der Elektro- und Elektronikindustrie. Im vergangenen Jahr beschäftigten 3.058 kunststoffverarbeitende Betriebe 336.000 Mitarbeiter.

Jahre des Wachstums beendet?

Die Jahre des Wachstums scheinen aber (zumindest teilweise) beendet: Während die Kunststoffverarbeiter in den vergangenen Jahren von Rekordergebnis zu Rekordergebnis eilten, ging der Branchenumsatz im vergangenen Jahr um 1,2 Prozent auf rund 65 Milliarden Euro zurück. „Das Geschäftsklima in unserer Branche ist infolge der öffentlichen Debatte über Kunststoffe zwischen Zuversicht und Unsicherheit zweigeteilt. Einerseits bieten Kunststoffprodukte die Lösung für vielfältige Herausforderungen unserer Zeit, insbesondere tragen sie zum klimaverträglichen Leben und zur Vermeidung von Ressourcenverschwendung bei. Andererseits führen widersprüchliche Signale aus Gesellschaft und Politik aktuell zu Unsicherheit und zur Zurückhaltung von Investitionen“, sagt GKV-Präsident Roland Roth
Für das Jahr 2020 erwartet die Branche vor dem Hintergrund der allgemeinen Wirtschaftslage eine Seitwärtsbewegung.
Rinhold Häken | redaktion@regiomanager.de

INFO



Ambitioniertes Recycling

Industrie strebt Kreislaufwirtschaft an


„Die Welt wird ohne Kunststoffe nicht auskommen können und deshalb gibt es nur eine Lösung: Kunststoffrecycling, wann und wo immer es möglich ist“, geht mit Eric Rehbock, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Sekundärrohstoffe und Entsorgung ein gewichtiger Branchenvertreter in die Offensive. Jahrzehntelang wurde „Plastik“ als Alleskönner gefeiert. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde deutlich, wie sehr der Alltag der Menschen von Kunststoffen geprägt ist und welche Auswirkungen Plastikprodukte und deren Zusatzstoffe auf Gesundheit und Umwelt haben können. Sehr drastisch trübt sich die Stimmung ein: „Es gibt zu viel dieses einstigen Wunderstoffs“, heißt die immer lauter werdende These. Deutlich wird nämlich, dass Kunststoffe auch für viele Wegwerfprodukte, Tragetaschen, Einweggeschirr oder eine Flut an Billigartikeln stehen, die Weltmeere belasten, eine Gefahr für die Natur darstellen können.
„Die Industrie ist sich ihrer Verantwortung bewusst, Prozesse, Produkte und Logistik nachhaltig und schonend zu gestalten und Kunststoffe stärker in Richtung einer Kreislaufwirtschaft zu entwickeln. Deshalb setzt sich die Branche für Abfallvermeidung, mehr Ressourceneffizienz und ambitionierte Recyclingtechnologien ein“, verdeutlicht der Branchenverband „Plastics Europe“, die Kritik ernst zu nehmen und Änderungen anzustreben.



NRW ist Kunststoffland

Südwestfalen gibt dabei den Takt vor


Mit über 1.000 Unternehmen, mehr als 145.000 Beschäftigten und 37 Mrd. Euro Umsatz ist NRW der Kunststoffstandort Nr. 1 in Europa. Mehr als 600 Unternehmen, 90 Prozent davon Verarbeiter, sitzen in Südwestfalen. Das Kunststoff-Institut Lüdenscheid unterstützt als Partner. Das privatwirtschaftliche Institut wird von 280 Firmen und der Stadt Lüdenscheid getragen Die Mitgliedsfirmen kommen überwiegend aus Europa, aber auch Unternehmen aus Kanada engagieren sich im südwestfälischen Verbund, der in der Kunststoffbranche eine Vorreiterfunktion erfüllt. Die Institution versteht sich als Dienstleister für Unternehmen der Kunststoffbranchen, als verlängerte Werkbank und wirkt aktiv an der Optimierung von Prozessabläufen, Produkten und Werkzeugen mit.

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Fotostrecke

Medizinisches Gerät: Kunststoff dominiert (Foto: ©Szymon – stock.adobe.com)

GKV-Präsident Roland Roth (Foto: BVSE)

Dr. Michael Zobel, Vorsitzender PlasticsEurope (Foto: Plastic Europe)

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